Frankreich ist eigentlich ein Land, in dem sich Juden sicher fühlen sollten. Ähnlich wie in den USA ist die Angehörigkeit zum Judentum eben so nebensächlich wie einen Migrationshintergrund aus Italien oder Irland. Juden sind zwar nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft, werden aber auch nicht als Kuriositäten vorgeführt. Nirgendwo in Europa leben Juden ihren Glauben so offen wie hier, wo Jungs an Shabbat Fußball spielen bis die Tzitzit fliegen.
Frankreich ist deswegen auch ein Sehnsuchtsort vieler Juden. Klar wimmelt es auch im Nachbarland von Antisemiten, zudem sind jüdische Einrichtungen Ziele islamistischer Anschläge. Aber man stößt auf der Arbeit, im Café oder in der Schule ständig auf Glaubensgenossen, mit denen man sich nach jüdischer Manier über die grassierenden Umstände im Land echauffieren kann. In Deutschland müsste man dafür extra in die Synagoge gehen.
Doch der Schutzraum in Frankreich verkommt. Das passiert nicht erst seit gestern, wie die vielen Morde und Attentate der vergangenen Jahre verdeutlichen. Doch die Solidarität der französischen Öffentlichkeit lässt nach, insbesondere die der Linken.
»Je suis juif«
Vor nicht mal zehn Jahren liefen Tausende Pariser mit dem Schild »Je suis juif« über den Platz der Republik, um sich mit den Opfern des Hypercashers zu solidarisieren, allen voran der damalige Präsident François Hollande, ein Sozialist. Heute wäre eine ähnliche Solidarisierung mit jüdischen Opfern unvorstellbar.
Dies zeigte sich wieder vergangene Woche, nachdem eine 12-jährigen Jüdin in der Nähe von Paris vergewaltigt wurde. Für viele Juden in Frankreich war das eines das schlimmste Ereignis seit dem 7. Oktober, wenn nicht noch schlimmer. Und dennoch fehlten auf den Kundgebungen fast alle linken Abgeordneten.
Es ist eine schmerzhafte Entwicklung, denn der Kampf gegen den Antisemitismus bildet eigentlich mit der Dreyfus-Affäre das historische Fundament der französischen Linken.
Dieselbe Bewegung bietet Juden heute keinen Schutzraum mehr, scheinbar um das Spiel der Rechten nicht mitzuspielen. Bezwecken tun sie aber vor allem eines: Sie vertreiben viele Juden aus ihrer politischen Heimat.