Antisemitisches Denken und Handeln ist in Deutschland in dramatischer Weise sichtbar. Die Zahl antisemitischer Straftaten schießt nach oben, Jüdinnen und Juden haben Angst. Wie ein Katalysator wirkt dabei der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 und seine Folgen.
Jüdische Studierende fühlen sich an den Universitäten nicht mehr sicher. Juden wagen es nicht mehr, die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen. Häuser werden mit Zeichen des Judenhasses beschmiert. Bei Demonstrationen wird die Vernichtung des Staates Israel gefordert. Mit anderen Worten: Jüdinnen und Juden werden in eklatanter Weise in der Ausübung ihrer Grundrechte beeinträchtigt.
Erkennbar wird zudem, dass sich Anhänger rechtsextremer, linksextremer und islamistischer Motivation gedanklich oft sehr nahe kommen. Judenhass ist gemeinsamer Nenner.
Das Grundgesetz erfasst die Bedrohung durch Antisemitismus sowohl für den Einzelnen als auch für die Demokratie bislang nur unzureichend. In der öffentlichen Wahrnehmung besteht ein Ungleichgewicht: Häufig werden mögliche Einschränkungen von Schutzrechten, denen die Angreifer ausgesetzt sein könnten, problematisiert, anstatt konsequent den Fokus auf die Opfer zu legen. Eine Täter-Opfer-Umkehr ist häufig die Folge.
Der auf Artikel 3 des Grundgesetzes basierende Schutz vor Diskriminierung greift oft nicht oder nur unvollständig, weil Juden eben nicht nur aus rassistischen oder religiösen Gründen angegriffen, sondern auch als Zionisten bekämpft oder auf dem Umweg der »Israelkritik« dämonisiert werden.
Diese rechtlichen Lücken tragen zu einer Wirklichkeit bei, die nur schwer auszuhalten ist. Sie führen mit dazu, dass antisemitische Hetze und Angriffe auf Juden nicht immer konsequent genug unterbunden werden können.
Der Gesetzgeber darf sich nicht wegducken
Natürlich gibt es bereits eine Vielzahl von Bemühungen, von Seiten des Staates und auch von Seiten der Zivilgesellschaft, gegen Antisemitismus anzukämpfen. Um dem Wirken zum Schutz jüdischen Lebens einen Rahmen zu geben, ist aus unserer Sicht aber eine entsprechende Staatszielbestimmung im Grundgesetz unerlässlich. Wir wissen, dass viele Politikerinnen und Politiker aus den demokratischen Parteien das Anliegen, die Förderung jüdischen Lebens und den Kampf gegen Antisemitismus in die Verfassung aufzunehmen, unterstützen.
Eine solche Maßnahme würde in dreierlei Richtung wirken: Sie hätte einerseits Symbolcharakter – und Symbole entfalten ihre Wirkung. Andererseits würde sie alle staatlichen Einrichtungen zu konkretem Handeln verpflichten. Drittens würde eine Verfassungsänderung zu einer intensiveren Beschäftigung weiter Teile der Bevölkerung mit der Realität der Juden in Deutschland und zu einer Solidarität mit diesen führen. Gerade jetzt braucht es eine »Kultur des Hinschauens«.
Auch der Gesetzgeber ist gefragt. Er darf sich nicht mehr wegducken, auch nicht vor den definitorischen Anforderungen, was den Antisemitismusbegriff angeht. Denn rechtliche Unklarheit bietet einen Schutzraum und Nährboden für antisemitische Ressentiments. Was nicht rechtlich zu fassen ist, kann ja auch »nicht so schlimm« sein und auch nicht sanktionswürdig, heißt es dann. Hinzu kommt: Rechtssetzung prägt auch maßgeblich die Einstellungen in der Gesellschaft.
Wir brauchen das Staatsziel im Grundgesetz und in unseren Landesverfassungen auch, weil es die Staatsorgane dauerhaft verpflichtet, in allen entscheidenden Fragen die Antisemitismusbekämpfung mit zu bedenken. Der Schutz von Jüdinnen und Juden in Deutschland darf nicht vom temporären politischen Wohlwollen abhängen, sondern gehört in die Verfassung.
Verbindliches Versprechen
Es ist schade, dass bislang aus der Mitte des Bundestages noch kein entsprechender Vorstoß erfolgt ist. Er sollte parteiübergreifend und ohne Fraktionszwang mit verfassungsrechtlicher Expertise erarbeitet werden. Eine Bundesratsinitiative jener Länder, die schon in ihren Verfassungen entsprechende Regelungen haben, könnte dem vorangehen.
Ein solcher Schritt wäre ein verbindliches Versprechen an alle Jüdinnen und Juden, dass das »Nie wieder« nicht nur Beistandsrhetorik, sondern ernst gemeint ist. Es wäre ein nachhaltiger rechtlicher Schutz, der unabhängig von politischen Stimmungen und Konflikten im Nahen Osten Bestand hat. Es wäre ein wichtiger Schritt raus aus der aufgeheizten Debatte in Richtung nachhaltiger Konzepte und einer modernen Rechtsetzung und Rechtsprechung.
Die Resolution der Ampelparteien und der Union im Deutschen Bundestag ist eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg, jüdisches Lebens zu fördern und den Kampf gegen Antisemitismus zu intensivieren. Es wäre schön gewesen, wenn in der Entschließung auch die Aufnahme einer Staatszielbestimmung im Grundgesetz enthalten gewesen wäre.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Hoffentlich schon bald.
Ludwig Spaenle ist Antisemitismusbeauftragter des Freistaats Bayern. Der CSU-Politiker war von 2008 bis 2018 bayerischer Staatsminister für Kultus und Wissenschaft.
Susanne Krause-Hinrichs ist Geschäftsführerin der F.C. Flick-Stiftung für Toleranz und Völkerverständigung in Potsdam.
Hinweis: Dieser Gastbeitrag beruht auf einem Plädoyer der beiden Autoren, das bei einer Fachtagung des Tikvah-Instituts am 5. November in Berlin vorgestellt wurde.