Kommentar

Der Koalitionsvertrag ist eine große Enttäuschung

Michael Thaidigsmann Foto: privat

Wer sich vom Regierungsprogramm von CDU, CSU und SPD ein Aufbruchsignal im Kampf gegen Antisemitismus oder Klarheit in Bezug auf Deutschlands künftiges Verhältnis zu Israel erhofft hatte, bekam am Mittwoch eine kalte Dusche verabreicht.

Die 144 Seiten lange Koalitionsvereinbarung mit dem Titel »Verantwortung für Deutschland« ist zumindest in dieser Hinsicht eine Enttäuschung. Zwar finden sich dort Sätze wie »Deutschland trägt eine besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens«, »Die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger muss im digitalen wie im öffentlichen Raum, auch an unseren Schulen und Hochschulen, gewährleistet sein« oder – mittlerweile schon unverzichtbar – »Das Existenzrecht Israels ist deutsche Staatsräson.«

Doch was all das genau bedeutet, welche Anstrengungen die Bundesregierung unternehmen wird und an welchen Stellschrauben sie drehen will: Darüber erfährt man wenig.

Ja, die Koalitionspartner wollen »die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland« fördern, aber – hier wird es ein bisschen konkreter – keine Organisationen und Projekte, die Antisemitismus verbreiten oder das Existenzrecht Israels infrage stellen. Welche Ausschlusskriterien gelten sollen und ob – wie vom Bundestag bekräftigt, aber weiter umstritten – die IHRA-Arbeitsdefinition zum Antisemitismus zugrunde gelegt werden soll, erfahren die Leser des Papiers nicht.

Alles, was in den Arbeitsgruppen strittig blieb, ließen die Chefverhandler der drei Parteien am Ende offenbar geräuschlos unter den Tisch fallen. Eine rasche Regierungsbildung hatte anscheinend Vorrang. Man hat sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt.

Große Diskrepanz zwischen Unionswahlprogramm und Koalitionsvertrag

Besonders deutlich wird die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn man das vor drei Monaten beschlossene Wahlprogramm der Union neben diesen Koalitionsvertrag legt. War das »Regierungsprogramm« der SPD diesbezüglich schon ziemlich vage und voller Floskeln, zeigten CDU und CSU vor der Wahl noch klare Kante.

Unter der Überschrift »Nie wieder ist jetzt!« forderten die Christdemokraten mehr Engagement gegen Antisemitismus, legten detaillierte Vorschläge vor. Sie verlangten härtere Strafen bei antisemitischer Hetze und ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels bei der Einbürgerung von Zuwanderern. Von der langen Liste der Unionsforderungen blieb im Koalitionsvertrag nur wenig übrig.

Immerhin, der Vertrag sieht vor, dass bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung das passive Wahlrecht entzogen werden kann. Auch der Paragraf 130 des Strafgesetzbuches (Volksverhetzung) soll verschärft werden. Und wörtlich heißt es: »Wir prüfen, inwiefern eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten, die im Zusammenhang mit der Dienstausübung antisemitische und extremistische Hetze in geschlossenen Chatgruppen teilen, eingeführt werden kann.«

Zur Zukunft der Arbeit des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben, Felix Klein, findet sich jedoch nichts in dem Papier. Und auch die Schaffung eines Deutsch-Israelischen Jugendwerks, die im CDU/CSU-Wahlprogramm vorgesehen und bereits 2021 von den Ampelparteien vereinbart war, wird nicht erwähnt.

Was bedeutet Staatsräson?

Das Regierungsprogramm fällt auch an anderer Stelle hinter die Vereinbarung von SPD, Grünen und FDP zurück. So ist keine Rede mehr davon, dass sich die künftige Bundesregierung »gegen Versuche antisemitisch motivierter Verurteilungen Israels« bei den Vereinten Nationen stark machen will, wie noch 2021 der Fall. Und das, obwohl die UN-Institutionen fast täglich ihre Einseitigkeit gegenüber dem jüdischen Staat unter Beweis stellen.

Fade Kost liefern die drei Parteien auch im Kapitel zu Israel und dem Nahen Osten ab. Auf den obligatorischen Satz vom »Existenzrecht Israels« und der »deutschen Staatsräson«, welcher sich tatsächlich zweimal in der Koalitionsvereinbarung findet, folgt eine Verurteilung des Terrorangriffs der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 (die Freilassung der Geiseln wird nicht explizit verlangt) und ein Bekenntnis zur deutschen Unterstützung Israels »bei der Gewährleistung der eigenen Sicherheit«. Was das genau heißt, zum Beispiel im Hinblick auf deutsche Rüstungsexporte an Israel, wird nicht verraten.

Denn flugs geht es im Text weiter zu den Palästinensern. Die humanitäre Lage im Gaza-Streifen müsse »grundlegend verbessert werden«. Und: »Die tragfähige Perspektive für ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern ist eine zu verhandelnde Zweistaatenlösung.« Die israelische Siedlungspolitik wird – anders als 2021 bei der Ampel – nicht mehr kritisiert.

Einige wenige Lichtblicke

Zu den deutschen Hilfen für die Palästinenser findet sich dagegen ein Satz: »Den Umfang unserer zukünftigen Unterstützung des VN-Hilfswerks UNRWA machen wir von umfassenden Reformen abhängig.« Wie diese Reformen konkret aussehen sollen, lassen die Koalitionäre im Unklaren. Schon im Koalitionsvertrag 2021, lange vor dem 7. Oktober, wurden »Reformen« bei der UNRWA angemahnt. Trotz der Skandale und trotz des Abbruchs der Zusammenarbeit Israels mit dem UN-Hilfswerk ist Deutschland nach wie vor weltweit einer der größten Geldgeber. Daran dürfte sich angesichts der wachsweichen Formulierung im Koalitionsvertrag auch nichts ändern.

Sicher, es gibt auch Lichtblicke in dieser Koalitionsvereinbarung. Die Einrichtung eines »Yad Vashem Education Centers« in Deutschland soll unterstützt werden und auch die Gedenkstättenarbeit will man stärken. Ferner soll es mehr als 80 Jahre nach dem Ende der Schoa ein Restitutionsgesetz für von den Nazis geraubte Kunst- und Kulturgüter geben. Sowohl die Jewish Claims Conference als auch der Zentralrat der Juden in Deutschland fordern dies schon seit Jahren. Was in diesem Gesetz drinstehen soll und ob es zum Beispiel auch Raubkunst im Privatbesitz umfassen soll, verrät das Papier nicht.

Angesichts der erst im Herbst vom Bundestag gegen große Widerstände beschlossenen Antisemitismusresolution und der vollmundigen Ankündigungen der Union im Wahlkampf ist das jetzt vorgelegte Arbeitsprogramm der Merz-Regierung, man kann es nicht anders sagen, eine große Enttäuschung.

Sicher, Papier ist geduldig und Ankündigungen ersetzen nicht politisches Handeln. Aber das jetzt vorgelegte Papier wirkt mutlos. Angesichts der drängenden Probleme wäre es angezeigt gewesen, sich nicht mehr hinter hohlen Phrasen und abgedroschener Politrhetorik zu verstecken.

Aufbruchstimmung sieht jedenfalls anders aus.

Der Autor ist Europa-Korrespondent der Jüdischen Allgemeinen.

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