Was bedeutet es, wenn eine Theorie, die für Gerechtigkeit kämpfen soll, in
manchen Fällen selbst Ungerechtigkeit reproduziert? Gilt Gerechtigkeit nur für bestimmte Gruppen? Diese Frage drängte sich mir auf, als ich mich während meines Ethnologie-Studiums intensiv mit der postkolonialen Theorie auseinandersetzte.
Ich war fasziniert von ihrer Fähigkeit, verborgene Machtstrukturen aufzuzeigen, koloniale Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen und marginalisierten Gruppen Gehör zu verschaffen. Doch je tiefer ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, dass dieser Ansatz nicht nur wertvolle Erkenntnisse liefert, sondern in ihrer undifferenzierten Anwendung auf Israel eine problematische Verzerrung
historischer Realitäten aufzeigt, die der jüdischen Geschichte keineswegs
gerecht wird.
Die postkoloniale Theorie beschäftigt sich mit der Dekonstruktion kolonialer Machtverhältnisse und untersucht, wie diese bis heute fortbestehen. Sie hinterfragt eurozentrische Narrative und kritisiert westliche Hegemonie, indem sie sich mit den Perspektiven und Erfahrungen ehemals kolonialisierter Gesellschaften auseinandersetzt.
Ausblendung historischer Realität
Dabei legt sie den Fokus auf rassistische Unterdrückungsmechanismen, wirtschaftliche Ausbeutung und die kulturelle Entmündigung indigener Bevölkerungen. Besonders das Konzept des Siedlerkolonialismus ist zentral: Demnach werden bestimmte Gesellschaften als Unterdrücker klassifiziert, die sich auf Kosten indigener Bevölkerungen Land aneignen und diese marginalisieren.
Häufig wird Israel in diesen Diskursen als klassisches Beispiel des
Siedlerkolonialismus dargestellt – ein Konzept, das aus westlichen
Kolonialerfahrungen abgeleitet wurde. Die Vorstellung, dass Jüdinnen und
Juden als »weiße Europäerinnen und Europäer« ein Land kolonisiert hätten, blendet eine zentrale historische Realität aus: Jüdinnen und Juden sind eine indigene Gruppe, deren Verbindung zu Israel bereits über Jahrtausende besteht.
Der Zionismus war keine koloniale Expansionsbewegung, sondern
ein Befreiungsprojekt, das auf die Wiederherstellung jüdischer Selbstbestimmung nach Jahrhunderten der Verfolgung, des Exils, Pogromen und schließlich der Schoa abzielte.
Fluchtbewegung vor Gewalt
Damit ist der Zionismus nicht nur eine politische Bewegung, sondern eine vielfältige Identitätskategorie mit kultureller, spiritueller und historischer Verbundenheit zu Israel. Im Gegensatz zu klassischen Kolonialprojekten war Israel keine europäische Expansion zur wirtschaftlichen oder politischen Machterweiterung, sondern eine Fluchtbewegung vor kolonialer und antisemitischer Gewalt.
Viele jüdische Gemeinschaften, insbesondere die Mizrachim und teilweise die Sephardim, stammen nicht aus Europa, sondern aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Zentralasien, genau wie die Hälfte der heutigen jüdischen Bevölkerung in Israel, was die Vorstellung eines rein »europäischen Kolonialprojekts« problematisch macht.
Der Zionismus kann als dekoloniales Befreiungsprojekt verstanden werden, das nicht der westlichen Expansion diente, sondern der Wiederherstellung indigener jüdischer Souveränität nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft. Diese Perspektive passt natürlich nicht in das binäre Modell von Kolonialmacht vs. Kolonisierte. Auch wenn das nicht bedeutet, dass es keine kolonialen Dynamiken im Umgang mit Palästinenserinnen und Palästinensern gab.
Verfolgt und vertrieben
Sowohl jüdische als auch palästinensische Narrative müssen integriert werden, jedoch ohne dabei in koloniale Muster oder Antisemitismus abzurutschen. Doch die Neudefinition der jüdischen Identität entlang westlicher Rassentheorien führt dazu, dass der Zionismus ausschließlich als Unterdrückungsmechanismus wahrgenommen wird.
Dies öffnet antisemitischen Narrativen Tür und Tor, etwa in der Delegitimierung jüdischer Selbstbestimmung durch Boykottkampagnen oder in der Gleichsetzung Israels mit Apartheidstaaten.
Die Rolle des arabischen Kolonialismus wird jedoch selten hinterfragt. Dabei hat dieser koloniale Elemente. Die jüdischen Gemeinden in Bagdad, Damaskus und Kairo existierten lange vor der arabischen Expansion – dennoch wurden sie nach der Staatsgründung Israels verfolgt und vertrieben.
Kaum berücksichtigt
1948 wurden ca. 850.000 Jüdinnen und Juden aus arabischen und
muslimischen Ländern vertrieben oder mussten aufgrund von Pogromen,
Diskriminierung und ihrem Status als Dhimmi (Nicht-Muslime in islamischen Reichen mit Einschränkungen, Sondersteuer und Behandlung als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse) fliehen.
Diese Vertreibung wird im postkolonialen Diskurs kaum berücksichtigt, obwohl sie eine direkte Folge der geopolitischen Entwicklungen jener Zeit war. Während die Nakba zu Recht als humanitäre Katastrophe anerkannt wird, bleibt das Schicksal der vertriebenen jüdischen Gemeinden in der arabischen Welt oft unerwähnt. Eine gerechte Analyse müsste jedoch beide historischen Tragödien in den Blick nehmen, anstatt eine Perspektive zu privilegieren.
Ein Problem der postkolonialen Perspektive auf Israel ist das starre Schwarz-Weiß-Denken, das eine klare Täter-Opfer-Zuordnung erzwingt. Israel wird als Kolonialmacht dargestellt, während die Palästinenserinnen und Palästinenser als einzige Opfer gelten. Eine solche Vereinfachung verstellt den Blick auf die vielschichtigen historischen Realitäten und trägt zur Polarisierung des Diskurses bei.
Antisemitische Narrative
Anstatt zu einer sachlichen Analyse beizutragen, verstärkt dieser einseitige Ansatz oft antisemitische Narrative und sorgt für eine zunehmende Radikalisierung in der Debatte. Dies kann dazu führen, dass jüdische Narrative delegitimiert werden und der israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr als wechselseitige Tragödie
betrachtet wird, sondern als eindimensionaler Unterdrückungsmechanismus.
Ein gerechter Diskurs müsste sowohl das palästinensische Recht als auch das jüdische Recht auf Selbstbestimmung berücksichtigen, ohne in simplifizierte koloniale Erzählungen zu verfallen.
Eine Reform der postkolonialen Theorie ist dringend notwendig. Eine
überarbeitete Perspektive sollte anerkennen, dass Jüdinnen und Juden eine indigene Verbindung zu Israel haben, dass der Zionismus keine rein
europäische Bewegung war und dass jüdische Selbstbestimmung nicht im
Widerspruch zu dekolonialen Kämpfen steht, sondern Teil davon sein kann.
Klassischer Gegensatz
Zudem muss sie die koloniale Unterdrückung jüdischer Gemeinschaften in
der arabischen Welt berücksichtigen und die komplexen historischen
Prozesse anerkennen, die über eine einfache Täter-Opfer-Zuordnung
hinausgehen. Die Theorie sollte nicht blind auf Israel angewandt werden, sondern die einzigartigen historischen und kulturellen Kontexte berücksichtigen.
Eine intersektionale Dekolonialisierungstheorie könnte dazu beitragen, die vielschichtigen Verflechtungen von europäischem, arabischem und
jüdischem Kolonialismus sowie Antisemitismus besser zu erfassen – über
den klassischen Gegensatz von Westen und Nicht-Westen hinaus.
Ich habe den Eindruck, dass die jetzige postkoloniale Theorie den Hass in
unserer Gesellschaft durchaus verstärkt. Die Delegitimierung der jüdischen Geschichte und die Radikalisierung des Diskurses dämonisiert in vielen Fällen Israel.
Differenzierte Betrachtung
Edward Saids »Orientalismus« und dessen einseitige Darstellung des Zionismus oder das Fehlen jüdischer zionistischer Perspektiven in dekolonialen Theorien sind nur einige Beispiele für die theoretische Nutzung in akademischen und aktivistischen Kreisen, die sich durch einseitige Boykottaufrufe oder dem Konzept der »Israelkritik«, das oft
als Deckmantel für Antisemitismus dient, bemerkbar machen.
Es ist wichtig, die Politik der aktuellen rechten Regierung Israels zu kritisieren, die den Zionismus zunehmend in nationalistische und exklusionistische Narrative umdeutet und diesen benutzt, um die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser zu marginalisieren. Sie brauchen Gerechtigkeit, aber eine Lösung kann nicht auf Basis eines
verzerrten Narratives entstehen, das nur eine Seite als Täter sieht und den
Zionismus als Ganzes infrage stellt.
Eine differenzierte Betrachtung, die jüdische Geschichte und Identität in
ihrer gesamten Vielfalt berücksichtigt, ist notwendig, um ihr ursprüngliches Ziel – die Aufarbeitung von Ungerechtigkeiten – tatsächlich zu erreichen. Eine Reform dieser Theorie könnte nicht nur die wissenschaftliche Debatte bereichern, sondern auch dazu beitragen, Brücken zwischen verschiedenen Perspektiven zu bauen, anstatt bestehende Konflikte weiter zu verschärfen.
Die postkoloniale Theorie bietet großes Potenzial, um Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten offenzulegen. Es ist höchste Zeit, dass diese Theorie ihren Eurozentrismus ablegt und endlich die Vielfalt jüdischer Identitäten anerkennt. Nur durch eine ehrliche und differenzierte Betrachtung können wir verhindern, dass vermeintliche Gerechtigkeit zu neuer Ungerechtigkeit führt.
Dieser Text ist zuerst bei »Eda« erschienen, dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Mehr Informationen finden Sie auf der Website oder dem Instagram-Kanal von »Eda«.