Oops, he did it again, könnte man mit Britney Spears sagen. Der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Karim Ahmad Khan, hat am Abend ein Statement veröffentlicht. Darin erwähnt er fast in einem Atemzug die von ihm erwirkten Haftbefehle gegen Mohammed Deif, den Chef des militärischen Flügels der palästinensischen Terrororganisation Hamas, und gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sowie dessen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant.
Khan, ein 1970 in Schottland geborener britischer Jurist mit pakistanischen Wurzeln, hatte am 20. Mai die Ausstellung von Haftbefehlen gegen drei Hamas-Verantwortliche und die beiden israelischen Politiker beantragt. Zwei der Hamas-Chefs – Ismail Haniyeh und Yahya Sinwar – wurden zwischenzeitlich von Israel getötet, Haniyeh bei einem Schlag in Teheran und Sinwar im Gazastreifen. Auch Mohammed Deif, der Kommandeur der Al-Qassam-Brigaden, ist israelischen Erkenntnissen zufolge längst tot, doch endgültige Bestätigung gibt es nicht.
Khan war in den letzten Monaten schwer in die Kritik geraten. Ihm wurde von westlichen Regierungen vorgeworfen, Hamas-Massenmörder und israelische Regierung auf eine Stufe zu stellen. Es gab mehrere Interventionen bei den Richtern. Auch die Bundesregierung wandte sich an den Strafgerichtshof und argumentierte gegen die Ausstellung von Haftbefehlen gegen die beiden Israelis. Vergeblich, denn die dreiköpfige Vorverfahrenskammer des Strafgerichtshofs folgte Khans Anträgen weitestgehend und erließ Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant.
Im Unterschied zu Deif erkannte die Kammer aber bei Letzteren keine hinreichenden Beweise für das Verbrechen der Ausrottung, Folter, sexuelle Gewalt, Geiselnahme und Verstöße gegen die Menschenwürde. Schwer genug wiegen die Vorwürfe gegen Netanjahu und Gallant dennoch.
Es gebe, so die Richter, hinreichende Gründe für die Annahme, dass beide das Kriegsverbrechen durch den Einsatz von Hunger als Mittel der Kriegsführung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Mord, Verfolgung und anderen unmenschlichen Handlungen begangen habe. Netanjahu und Gallant seien beide »als direkter Täter« anzusehen, die gemeinsam mit anderen gehandelt hätten. Zudem seien sie als Vorgesetzte für Kriegsverbrechen gegen Zivilisten verantwortlich.
Khan erklärte am Abend: »Heute sollten wir uns gemeinsam auf die Opfer internationaler Verbrechen in Israel und im Staat Palästina konzentrieren. Bei meinen eigenen Treffen mit den Opfern und Familien der Geiseln aus den Kibbuzim und mit Opfern aus Gaza, die so viele Angehörige verloren haben, habe ich betont, dass das Gesetz für alle da ist und dass es seine Aufgabe ist, die Rechte aller Menschen zu wahren. Die Entscheidung der unabhängigen Richter des Internationalen Strafgerichtshofs bestätigt, dass das humanitäre Völkerrecht unter allen Umständen durch faire und unparteiische Gerichtsverfahren gewahrt werden muss.«
Seine Anträge auf Haftbefehle seien »nach einer unabhängigen Untersuchung und auf der Grundlage objektiver, überprüfbarer Beweise« gestellt und durch ein »gründliches Verfahren« geprüft worden.
Der Chefankläger, den zahlreiche israelische Politiker heute scharf kritisierten - der Vorwurf des Antisemitismus klang da eher noch harmlos -, appellierte an alle Vertragsstaaten des Strafgerichtshofes, ihrer Verpflichtung nachzukommen und die Anordnungen der Kammer zu befolgen.
Subsidiaritätsprinzip
Er werde, so Karim Khan, »weiterhin die Zusammenarbeit aller Beteiligten, einschließlich des Staates Israel und des Staates Palästina, anstreben, um sicherzustellen, dass mein Büro seiner Verantwortung gemäß Artikel 54 des Römischen Statuts, belastende und entlastende Umstände gleichermaßen zu untersuchen, in vollem Umfang nachkommt.«
Einen Fingerzeig, dass das Verfahren nicht unbedingt vor dem IStGH in Den Haag geführt werden müsste, gab Khan am Ende seiner Erklärung doch noch. Er deutete an, dass weiter die Möglichkeit bestehe, dass sich nach dem Subsidiaritätsprinzip die nationalstaatlichen Gerichte der Vorwürfe annehmen: »Die Tür zur Komplementarität bleibt im Einklang mit dem Römischen Statut weiterhin offen«, so Khan.
Er werde »aktiv die Anwendung dieses grundlegenden Prinzips bewerten, das echte innerstaatliche Ermittlungen und die gegebenenfalls erforderliche Strafverfolgung derselben Personen für im Wesentlichen dasselbe Verhalten erfordert.«
Parallel dazu wollen der 54-jährige Jurist und sein Büro aber ihre Untersuchung »im Staat Palästina« fortsetzen - und sie auf das Westjordanland und Ost-Jerusalem ausweiten. Das dürfte dem Briten jedoch schwer fallen: Israel, das kein Vertragsstaat des IStGH ist und das Römische Statut nicht ratifiziert hat, hat längst die Zusammenarbeit mit dem Chefankläger aufgekündigt.
EU-Staaten in der Zwickmühle
Das Tischtuch zwischen Jerusalem und Den Haag ist endgültig zerschnitten, das Vertrauen Israels in die Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen und ihrer Justizorgane zerstört. Die Wahrscheinlichkeit, dass Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant tatsächlich vor dem IStGH der Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gemacht wird, ist dennoch gering.
Die europäischen Regierungen sind in einer Zwickmühle. Vielen schmeckt die heutige Entscheidung nicht. Die Nahostdiplomatie wird noch komplizierter.
Doch nach dem Römischen Statut, das alle 27 EU-Staaten ratifiziert haben, sind sie an die Haftbefehle gebunden. Netanjahu dürfte vorerst nicht Europa besuchen. Ob sich umgekehrt europäische Regierungschefs künftig nach Israel begeben, um ihn dort zu treffen, ist ebenfalls fraglich - der potenzielle Imageschaden in der Heimat ist hoch.
Netanjahu bleiben als westlicher Verbündeter nur die Vereinigten Staaten. Die haben das Römische Statut ebenfalls nicht ratifiziert - und dürften unter Donald Trump eine härtere Gangart gegen den Strafgerichtshof einlegen.