»Es ist 5 vor 1933« und »Nie wieder ist jetzt« – diese Slogans waren auf Transparenten der Demonstranten zu lesen, die am Wochenende bundesweit auf die Straßen gingen. Allein in Berlin sollen es am Sonntag rund 160.000 gewesen sein, die von der Reichstagswiese zur CDU-Parteizentrale im Konrad-Adenauer-Haus zogen. Sie wollten damit ihre Sorge um die Brandmauer zum Ausdruck bringen, die zu fallen droht, seitdem CDU-Chef Friedrich Merz so offensichtlich keine Probleme damit hat, sich Mehrheiten jenseits der demokratischen Parteien zu beschaffen. Für die Demonstranten stellt eben das einen Tabubruch dar.
Dabei musste man gar nicht bis zum Reichstag laufen, um live und in Farbe vorgeführt zu bekommen, wie sogar ein »3 vor Pogromnacht« aussehen kann. Denn schon am Vortag zog unter dem Motto »Hands off Westbank« eine Demonstration mit etwa 280 Teilnehmern in Richtung Potsdamer Platz. Laut Informationen der Tageszeitung »Bild« sollen dabei Parolen wie: »Wer eine Waffe habe, soll damit Juden erschießen oder sie der Hamas übergeben!« gebrüllt worden sein.
Auf X erklärte die Polizei dazu: »Aufgrund der Sprachbarrieren und der mit dem Aufzugsgeschehen einhergehenden Lautstärke konnte nicht an allen Stellen eine durchgängige Übersetzung für eine sofortige Bewertung durchgeführt werden.« Aber all das, was man auf der Demonstration an Video-, Foto- und Tonmaterial habe, würde jetzt vom Staatsschutz ausgewertet.
»Bild«-Reporter Iman Sefati hatte vor Ort ein bekanntes Gesicht gesehen und fotografiert, und zwar das von Helmi Barbakh, einem jungen Palästinenser, der im vergangenen September einen Mikrofonständer nach dem Berliner Kultursenator Joe Chialo geworfen hatte, wobei eine Frau verletzt wurde. Gegen ihn wird deswegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch ermittelt.
Hasserfüllte Demonstrationen gegen Israel, bei denen mehr oder weniger zur Vernichtung des jüdischen Staates aufgerufen wird, gibt es seit dem 7. Oktober 2023 fast täglich. Und auch am späten Samstagnachmittag waren es die üblichen Verdächtigen, die in Berlin-Mitte wiederholt unterwegs waren: erlebnisorientierte Erasmus-Studenten, versprengte Antiimperialisten sowie Migranten aus Neukölln und die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost«, die bei solchen Krawall-Events natürlich nie fehlen darf.
Doch selten wurde so offen zum Mord an Juden aufgerufen, also ein Drohpotenzial von neuer Qualität erreicht. Das geschieht ausgerechnet jetzt, wo es im Gazastreifen zu einer Waffenruhe gekommen ist. Und je lauter solche Aufrufe zum Mord zu hören sind, desto leiser fallen die Reaktionen aus. Genauer gesagt: Es gab keine. Auch nicht beim »Aufstand der Anständigen« tags darauf. Denn Antisemitismus scheint im Kampf gegen Rechts kein Thema zu sein. Denn »Menschenfeindlichkeit« kann es doch nur exklusiv von Rechts geben.
Irritierend ist auch die Tatsache, dass die FDP-Politikerin Karoline Preisler, die am Sonntag mit dabei war und ein Foto des von der Hamas immer noch in Geiselhaft befindlichen Babys Kfir Bibas sowie seiner Mutter hochhielt, schnell den Eindruck gewann, beim »Aufstand der Anständigen« alles andere als willkommen zu sein.
Besonders ohrenbetäubend war das Schweigen der »Anständigen« in Essen. Dort demonstrierten am Samstag rund 14.000 Menschen gegen Rechts, hielten unter anderem Schilder mit der Aufschrift »Nie wieder ist jetzt!« hoch. Doch dann kreuzte eine israelfeindliche Kundgebung den Demonstrationszug. Mit Palästina-Flaggen und Kuffiyeh skandierten die Teilnehmer antisemitische Parolen wie »Muslimisch, jüdisch oder christlich - wir sind antizionistisch« oder »Ärzte werden massakriert, warum wird das akzeptiert?«. Doch statt sich den Antisemiten in den Weg zu stellen, schwiegen die »Anständigen« oder - schlimmer noch - applaudierten vereinzelt.
Der Autor ist Journalist und Historiker und lebt in Berlin.