Mittlerweile marschieren sie auch in Buenos Aires, Madrid, Paris oder Zürich. Überall sind in den vergangenen Wochen Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Maßnahmen zu protestieren, die man dort zur Eindämmung der Corona-Pandemie verhängt hat. Doch nirgends waren die Zahlen der Demonstranten annähernd so hoch wie hierzulande.
Auch gab es keine vergleichbaren Querfronten von Impfgegnern, Wutbürgern sowie Hippies und Neonazis, wie sie dieser Tage in Berlin zu beobachten waren – allenfalls in London schaffte es der antisemitische Verschwörungsideologe David Icke, gemeinsam mit Piers Corbyn, Bruder des ehemaligen Labour-Chefs Jeremy Corbyn, 10.000 Leute zusammenzutrommeln, die aber fast ausschließlich den rechtsextremen Milieus zuzuordnen waren.
REFLEXE Vielleicht liegt es daran, dass Corona in Spanien oder Italien viel verheerender und damit sichtbarer wüten konnte als in Deutschland, sodass Parolen von der Nichtexistenz des Virus oder seiner Harmlosigkeit schwerer greifen konnten.
Die esoterisch veranlagte und die Grünen wählende schwäbische Hausfrau hat kein Problem damit, neben einem die Kaiserreichsflagge schwenkenden Rechtsextremen aus Brandenburg zu marschieren.
Vielleicht aber existieren hierzulande einfach stärkere antizivilisatorische und technikfeindliche Reflexe. Wie im Fall der Coronavirus-Krise geht man Missständen ungern rational und analytisch auf den Grund, sondern personalisiert sie lieber. Dann ist schnell von Bill Gates, George Soros oder den Rothschilds die Rede.
Das Ganze geht dann oft einher mit einer Selbstviktimisierung – und was eignet sich in Deutschland dabei besser als eine Bezugnahme auf jüdische Symbolik?
MECHANISMEN All diese Mechanismen finden sich bei Kapitalismuskritikern, Antiimperialisten sowie Reichsbürgern gleichermaßen, weshalb die esoterisch veranlagte und die Grünen wählende schwäbische Hausfrau auch kein Problem damit hat, neben einem die Kaiserreichsflagge schwenkenden Rechtsextremen aus Brandenburg zu marschieren.
Es gibt halt mehr Verbindendes als Trennendes. Und daraus wird letztendlich eine gefährliche Masse.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin und Tel Aviv.