Kommentar

Bezalel Smotrich, die Geiseln in Gaza und der moralische Teufelskreis

Finanzminister Bezalel Smotrich Foto: copyright (c) Flash90 2025

Der Aufschrei war so laut wie nötig, nachdem der rechte israelische Finanzminister Bezalel Smotrich in einem Radiointerview erklärt hat: »Wir müssen die Wahrheit sagen: Die Freilassung der Geiseln ist nicht das Wichtigste. Es ist natürlich ein sehr wichtiges Ziel, aber wenn man die Hamas zerstören will, damit es keinen weiteren 7. Oktober gibt, muss man verstehen, dass es keine Situation geben kann, in der die Hamas in Gaza verbleibt.«

Nun ist Smotrich erstens ein Radikaler, zweitens steht er sowohl in der Regierung wie in der israelischen Gesellschaft für eine Minderheit und drittens lässt er in beständiger Regelmäßigkeit menschenverachtende Aussagen vom Stapel, die ohne Wenn und Aber zu verurteilen sind. Anders gesagt: Er ist eines der gefährlichen Schmuddelkinder der gegenwärtigen israelischen Politiklandschaft.

Was er sagt, ist nicht repräsentativ, aber keineswegs bedeutungslos und sicher mehr als nur eine temporäre Verirrung. Vielleicht ist das der Grund, warum die Reaktionen auf seine Aussagen heftiger als üblich ausfallen – zumindest abseits der Regierung. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er als Regierungsmitglied in aller Öffentlichkeit begonnen hat, ein Dogma in Frage zu stellen, das nicht erst seit dem 7. Oktober zu den unantastbaren Grundüberzeugungen Israels zu zählen schien. Sondern das gleichzeitig den Mörtel angriff, aus dem das jüdische Haus gebaut wurde.

Dreh- und Angelpunkt

Es geht um das Bindemittel, das uns Juden und viel mehr noch das moderne Israel, seine Gesellschaft und seine Verteidigungsstreitkräfte in unvergleichlicher Weise zusammenhielt. Füreinander einstehen ließ. Und damit eine außergewöhnliche kollektive Verantwortung speiste. Nämlich das Dogma, dass kein Jude jemals zurückgelassen wird. Dass das Leben heilig ist. Dass es geschützt und bewahrt werden muss. Und dass es also der Dreh- und Angelpunkt des jüdischen Selbstverständnisses ist.

Übersetzt in die israelische Realität bedeutet dies, dass es die wichtigste Aufgabe des Staates ist, das Überleben und die Sicherheit der israelischen Bevölkerung sicherzustellen – eine Aufgabe an der die gegenwärtige Regierung am 7. Oktober 2023 kläglich gescheitert ist. Es bedeutet, dass sich jeder Soldat sicher sein kann, dass - sollte er jemals in feindliche Gefangenschaft geraten - Israel alles menschenmögliche unternehmen wird, um ihn zu befreien. Und dass man alles tun wird, um ihn zurückzuholen. Tot oder lebendig. Dass also niemand zurückgelassen wird. Niemand! Niemals! Koste es, was es wolle.

In religiöser Sprache und abseits der radikalen israelischen Realität aus Bedrohung, Terror und Krieg bedeutet dies: Wer ein Leben rettet, rettet eine ganze Welt (Babylonischer Talmud, Sanhedrin 37a). Es bedeutet, dass wir durch die religiösen Gesetze leben sollen und nicht sterben sollen. Vachai bahem! Lebe durch sie! (Levitikus 18:5). Und es bedeutet, dass nahezu alle religiösen Gesetze in dem Moment aufgehoben werden, wo es um den Schutz des Lebens und die Lebensrettung geht – Pikuach Nefesch. Die Befreiung von Gefangenen ist zudem eine der höchsten religiösen Pflichten (Pidyon Shevuyim).

Unverhandelbare Forderung

Es sind absolute Grundüberzeugungen. Sie bilden unser jüdisches Haus. Individuell und kollektiv. Und sie haben uns über weite Strecken davor bewahrt, so zu werden wie viele unserer Feinde. Nicht immer. Nicht überall. Und nicht vollständig. Was in der Konfrontation mit Judenhass, Indoktrination, Tod, Terror und Krieg auch ein Wunder wäre. Aber über weite Strecken der Geschichte und unserer Existenz.

Die »Bring them Home«-Bewegung basiert auf diesem Denken. Also die eindeutige und unbedingte Forderung, alle Geiseln, die sich noch immer in der Gewalt der Hamas befinden, nach Hause zurückzubringen. Und dies als absolute, unverhandelbare Forderung zu begreifen. Denn es sind nicht »ihre« Kinder, Ehepartner und Eltern, die dort in den Tunneln Gazas unter unmenschlichen Zuständen von den Barbaren der Hamas gefangen gehalten werden. Es sind unsere Kinder, Ehepartner und Eltern. Sie sind Teil von uns. Und wir geben sie nicht auf. »Bring them Home!«

Selbst die Regierung Netanjahu hat die Befreiung der Geiseln vom ersten Moment an und immer wieder als eines der Kriegsziele ausgegeben. Doch genau hier liegt das Problem. Denn es war eines der Kriegsziele. Das zweite war die Vernichtung der Hamas. Und im Grunde war von Beginn an klar, dass hier zwei Ziele formuliert worden sind, die sich nicht gleichzeitig verwirklichen lassen. Die sich bis zu einem gewissen Grad sogar gegenseitig ausschließen. Und die ein teuflisches Dilemma beinhalten.

Dramatik der Entscheidungen

Um die Lebenden nach Hause zu holen, hat Israel einen enormen Preis bezahlt. Denn abgesehen von denjenigen, die durch lebensgefährliche Operationen israelischer Spezialeinheiten aus Gaza befreit wurden, presste die Hamas für die Freilassung israelischer Geiseln hunderte palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen frei. Die meisten von ihnen Terroristen. Zivilisten gegen Terroristen. Soldaten gegen Straftäter. Und dennoch war Israel bereit, diesen Preis zu zahlen. So wie man ihn immer wieder gezahlt hat.

Dies galt etwa im Fall des israelischen Soldaten Gilad Shalit, der 2006 von der Hamas nach Gaza verschleppt wurde und 5 Jahre später, also im Jahr 2011, im Tausch gegen 1027 palästinensische Gefangene freigelassen wurde.

Auch hier waren die freigepressten Palästinenser keine Friedenstauben, die aus politischen Gründen einsaßen, sondern Gewalttäter und Terroristen. Unter ihnen war auch Yahya Sinwar, der später zum Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober 2023 wurde. Und genau an diesem Punkt wird die Dramatik der Entscheidungen sichtbar, die Israel immer wieder treffen muss, um an dem Dogma festzuhalten, wonach kein Jude jemals zurückgelassen wird. Wonach alles unternommen wird, um ihn heimzuholen. Lebendig oder tot. Und koste es, was es wolle.

Aufprall auf dem Boden

Daraus entstehen eine Reihe weiterer Dilemmata, die in der politischen Theorie, in religiösen Debatten oder philosophischen Auseinandersetzungen nicht nur erheblichen Raum einnehmen, sondern letztlich auch ohne Konsequenzen diskutiert und entschieden werden können. Ihre Bewährungsprobe erleben sie aber erst beim Aufprall auf dem Boden der brutalen Realität des Nahostkonflikts.

Denn in der Theorie ist es ziemlich eindeutig: Jedes Leben ist unendlich wertvoll und muss bewahrt und gerettet werden. Jeder wird um jeden Preis zurückgeholt. Keiner wird dem Feind preisgegeben. Und in Zweifelsfällen ist man bereit, alles zu opfern. Mitunter auch das eigene Leben. In der Praxis allerdings bedeutet diese Haltung, dass auch der Feind sie kennt und immer wieder ausbeutet. Dass er genau weiß, dass es kaum etwas Wertvolleres gibt, als jüdische Geiseln. Dass diese Hunderte oder gar Tausende palästinensische Gefangene wert sind. Selbst wenn sie schwerste Straftaten begangen haben.

Dass sich mit ihnen Waffenstillstände erpressen lassen. Oder zurückhaltendes militärisches Vorgehen. Oder hochriskante Befreiungsaktionen, mit denen man Israel in die Falle locken kann. Oder was auch immer. Doch damit nicht genug: am Beispiel von Gilad Shalit und Yahya Sinwar offenbaren sich die Folgen dieses in politisches Handeln gegossenen Selbstverständnisses in besonders tragischer Weise.

Grundlegendes Prinzip

Für das Leben des einen erfolgt die Freilassung des anderen, dessen mörderischer Plan am Ende in dem schlimmsten Pogrom an Juden seit dem Holocaust gipfelt. Mit 1200 Toten, über 5000 teils schwer Verletzten, 251 Verschleppten und massiver Zerstörung der Kibbuzim im Süden Israels. Der Tod und die Zerstörung, die von den anderen freigepressten palästinensischen Terroristen ausging, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. Heißt das nun, dass das grundlegende Prinzip aufgeweicht oder gar aufgegeben werden sollte? Dass Israel die unantastbare Überzeugung opfern sollte? Dass die kollektive Verantwortung für den Einzelnen der Verantwortung für das Kollektiv weichen muss?

Nein, das heißt es nicht. Aber eines sollte man nicht vergessen: Aus der Ferne, in der Theorie und ohne konkrete Verantwortung sind solche Fragen vielleicht schwer zu beantworten, aber die Entscheidung bleibt weitgehend folgenlos.

Ob aus tiefer Überzeugung, rechtschaffener Empörung oder berechtigter Sorge um die kollektive Seele: Die Positionierung ist und bleibt theoretisch. Diesen Luxus können sich aber all diejenigen nicht leisten, die tagtäglich Entscheidungen treffen müssen, die das Schicksal von Einzelnen und der Gemeinschaft betreffen. Entscheidungen, die im Heute getroffen werden müssen und die massive Auswirkungen auf das Morgen haben werden ohne, dass deren Tragweite vollständig übersehbar wäre.

Strudel von Zweifeln

Es sind Entscheidungen, in denen Moral, Selbstverständnis, Prinzipien, Konsequenzen und Verantwortung in einen Strudel von Zweifeln geraten. Entscheidungen, die eigentlich unmöglich zu treffen sind. Entscheidungen, bei denen es kein gut oder schlecht, sondern nur schlecht und noch schlechter gibt. Und die über Leben und Tod ebenso entscheiden, wie über die Zukunft des jüdischen Volkes.

Ich persönlich bin froh, dass ich meine Entscheidung aus gesinnungsethischer Sicht treffen kann. Entlang unseres bisherigen Selbstverständnisses. Und rein theoretisch. Und ich hoffe und wünsche den Entscheidungsträgern in Israel, dass sie von Weisheit geleitet werden und ihrer Verantwortung gerecht werden. Wobei beides zusammen bei einigen der derzeitigen israelischen Politiker schon einem Wunder gleichkommen würde. Dass sie sich aber zumindest bewusst sind, was bei all diesen Überlegungen auf dem Spiel steht. Und dass sie die Axt nicht leichtfertig an den Baum unantastbarer jüdischer Überzeugungen anlegen.

Denn selbst kleine Verletzungen können auf lange Sicht zum Absterben des jüdischen Baums führen. Vielleicht drücken es die Worte der israelischen Knessetabgeordneten am ehesten aus, die gefragt wurde, wie sie denn entscheiden würde, wenn ihre Kinder als Geiseln in Gaza festgehalten würden. Worauf sie antwortete: »Wäre ich Zivilistin, würde ich jeden Tag vor der Knesset für die Freilassung der Geiseln demonstrieren. Aber als Politiker in der Knesset müssen wir jeden Tag Entscheidungen treffen, die das Wohl aller im Auge haben. Und beides ist nicht immer das Gleiche.«

Hoffen wir, dass die Vorstöße auf den Widerstand treffen, den sie verdienen. Hoffen wir, dass Weisheit und Weitsicht Einzug halten, welche die Quadratur des Kreises auflösen. Und hoffen wir, dass Israel und die Seele des jüdischen Volkes dieses teuflische Dilemma einigermaßen unbeschadet überleben.

Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

Israel

Menschliche Überreste nach Hai-Angriff gefunden

Nachdem am Montag über die Attacke berichtet wurde, stießen Taucher nun auf Leichenteile

 22.04.2025

Jerusalem

Trumps Botschafter in Israel: Druck an der richtigen Stelle ausüben

Mike Huckabee sagt, humanitäre Hilfe könne wieder nach Gaza geliefert werden, wenn die Geiseln freigelassen würden

 22.04.2025

Nahost-Diplomatie

Gaza: Vermittler streben mehrjährige Waffenruhe an

Laut BBC wollen Ägypten und Katar mit einem neuen Vorschlag Bewegung in die festgefahrene Situation bringen

 22.04.2025

Tel Aviv

Schin Bet-Chef erhebt Vorwürfe gegen Netanjahu

Der Streit zwischen dem Regierungschef und dem Leiter des Schin Bet geht in die nächste Runde

 22.04.2025

Gaza

Hamas ruft weiteren »Tag des Zorns« aus

Der Nationale Sicherheitsrat ruft Israelis im Ausland zur Vorsicht auf

 22.04.2025

Meinung

Wenn deutsche Ex-Diplomaten alle antiisraelischen Register ziehen

Deutschland darf nicht länger schweigen? Eine Erwiderung von Daniel Neumann auf den vielsagenden »FAZ«-Gastbeitrag ehemaliger Botschafter

von Daniel Neumann  21.04.2025

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  21.04.2025

Hadera

Mann nach Bericht über Haiangriff vor Israels Küste vermisst

Hai-Attacken sind in Israel höchst selten

 21.04.2025

Gaza

Geisel Elkana Bohbot muss Telefonat mit seiner Familie vortäuschen

Ein neues Propagandavideo des israelischen Familienvaters wurde nach 561 Tagen in der Gewalt der Hamas veröffentlicht

von Sabine Brandes  21.04.2025