Vor acht Jahren habe ich einer Gruppe junger Muslime folgende Frage gestellt: Warum sollen Muslime sich gegen Antisemitismus engagieren? Ich bekam unter anderem folgende Antworten:
»... weil man das von uns erwartet«,
»... weil es unsere religiöse Pflicht ist, als Muslime gegen Ungerechtigkeit vorzugehen, und Antisemitismus ist eine üble Form davon«,
»... wenn wir wollen, dass andere gegen Islamophobie sind, dann müssen wir doch auch gegen Antisemitismus sein«,
»... wir gehören zu Deutschland, und als Teil dieser Gesellschaft ist es auch unsere Aufgabe, gegen Antisemitismus zu sein«,
»... wir Muslime haben ein Antisemitismusproblem, also müssen wir etwas dagegen tun.«
PFLICHT Manche verstehen es als muslimische Pflicht, andere als bürgerliche Aufgabe, sich gegen Hass und Intoleranz stark zu machen. Genau hier wird es für mich spannend. Weil hier Beweggründe für die Bereitschaft, sich zu engagieren, sichtbar werden. Hier will ich nämlich ansetzen. Ich möchte diese Ressource nutzen!
Und dieser sokratische Ansatz, nach dem »Warum?« zu fragen, um einem selbst die Chance zu bieten, sich seiner Motivation bewusst zu werden, ist effektiver als jede formulierte Erwartungshaltung. Ich bin überzeugt, dass man mit der richtigen, also mit einer wohlwollenden und einbeziehenden Kommunikation Menschen erreichen und Energien freisetzen kann, die sonst verborgen geblieben wären.
Wenn Juden sagen, dass sie sich bedroht fühlen, dann müssen Muslime auch an ihrer eigenen Haltung arbeiten.
Muslime müssen sich gegen Antisemitismus engagieren, weil er auch aus ihren eigenen Reihen kommt. Wenn Juden in Deutschland sagen, dass sie sich durch muslimischen Antisemitismus bedroht fühlen, dann müssen Muslime hier auch an ihrer eigenen Haltung arbeiten. Doch sie müssen auch gegen Antisemitismus sein, weil der eine Gefahr für die Gesellschaft im Allgemeinen ist. Und als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft ist es auch ihre Aufgabe, diese vor Gefahren zu beschützen.
GEFAHR Zwei Fragen müssen an dieser Stelle jedoch geklärt werden: Erkennt die Gesellschaft die Gefahr des Antisemitismus? Und sind Muslime überhaupt als Teil dieser Gesellschaft anerkannt? Auf beide Fragen gibt es keine klaren Antworten.
Es gibt latenten Antisemitismus, der liegt seit vielen Jahren konstant bei circa 20 Prozent. Doch mit der AfD fällt das Latente, das Tabu, weg, und die Salonfähigkeit des Antisemitismus nimmt mit rasantem Tempo zu. Dabei versucht die AfD gar, jüdische Stimmen im Kampf gegen den »Islam« zu missbrauchen. Diese Nummer geht nicht auf, vor allem, weil Juden hier nicht mitmachen, sich nicht instrumentalisieren lassen.
Sowohl in der Politik als auch in der Zivilgesellschaft gibt es eine große Aufmerksamkeit für Antisemitismus, die diesen Entwicklungen entgegensteht und Grund zur Hoffnung gibt. Wir müssen als Gesellschaft wachsam bleiben und – beinahe im fußballerischen Sinn! – unsere Räume verteidigen.
Eine wohlwollende und einbeziehende Art kann Energien freisetzen, die sonst verborgen geblieben wären.
Die zweite Frage, die nach der Zugehörigkeit der Muslime zur deutschen Gesamtgesellschaft, ist wohl weder in der Selbstwahrnehmung der Muslime noch in der nicht-muslimischen Dominanzgesellschaft eindeutig beantwortet. Muslime sehen sich selbst oft als Fremde und werden oft als solche wahrgenommen. Und diese Wahrnehmungen bedingen einander und stehen in einer negativen Wechselwirkung.
IDENTITÄT Inzwischen glaubt man sogar, darin ein Identitätsmerkmal festmachen zu können. Hier fällt mir ein Lehrer ein, der dies schon verinnerlicht hat: »Muslime sind halt so, kann man nichts machen«, sagte er. So eine Kapitulation, vor allem von einem Lehrer, ist erschreckend, offenbart sie doch eine Verallgemeinerung, die nie und nirgends stimmen kann.
Immer wieder hören wir, dass »Antisemitismus ein Lackmustest für die Gesellschaft« ist. Auch das Bild mit den Kanarienvögeln, die von Minenarbeitern mitgenommen werden, um festzustellen, wie lebensfähig man in der Mine ist, wird in diesem Kontext häufig verwendet. Mir persönlich ist es zuwider, Juden auf eine Art gesellschaftliches Warnsignal zu reduzieren. Aber dass da was dran ist, ist schwer zu leugnen. Vielleicht sind diese simplen Analogien sogar kein so schlechter Weg, zeigen sie doch, dass die Lösung vielleicht weniger komplex ist, als angenommen.
Das identitätsstiftende Merkmal einer modernen, vielfältigen Gesellschaft muss die Haltung für Toleranz und gegen Hass sein. Und Haltung vermitteln – dafür brauchen wir emphatische Bildungsansätze und zugewandte Begegnungen. Der Kampf gegen Antisemitismus ist nämlich immer eine Frage der Identität und Zugehörigkeit.
Der Autor ist Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA).