Meinung

An Purim wird »We will dance again« wahr

Ab Donnerstagabend feiern Juden auf der ganzen Welt Purim Foto: Flash 90

Die Lichtsäule zerschnitt den Nebel. Ihr Kegel strahlte auf der verdunkelten Tanzfläche in mein Gesicht. Der Bass hämmerte, die Menge tanzte. Für einen kurzen Augenblick tauchten um mich herum die Gestalten auf. Es war ein Wunderland: Superman huschte vorbei, Clowns im munteren Treiben, Feen, die Kurze auf ex kippten. Sie alle zwischen noch viel mehr verkleideten Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmern. Ich tanzte bis in die frühen Morgenstunden. Das war nicht an Karneval, es war Purim. Und die Anwesenden feierten das Überleben des jüdischen Volkes. Jedes Jahr. Meine eben geschilderten Erfahrungen vom vergangenen Jahr werden sich kaum von denen unterscheiden, die vor mir liegen.

Für jüdische Kinder ist dieses Fest zweifelsohne der beliebteste Feiertag. Es wird sich verkleidet, es gibt süße Backwaren und viele Partys. Dabei hat das Fest einen sehr ernsten Hintergrund: Der böse Minister Haman will durch ein Komplott die in Persien lebenden Jüdinnen und Juden ermorden. Doch die mutige, jüdische Frau des Königs, Esther und ihr kluger Onkel Mordechai, konnten die Verschwörung aufdecken und den Massenmord verhindern.

»Such dir dein jüdisches Trauma aus«: Ruben Gerczikow bei der Purim-Party von Hillel Deutschland

Wie kann eine solch ernste Erzählung dann zu so ausgiebigen Feiern, zu Verkleidung, Tanz und Alkoholsättigung führen? Viele jüdische Feiertage lassen sich humoristisch wie folgt zusammenfassen: »Sie haben versucht, uns zu töten. Sie haben es nicht geschafft. Lasst uns essen.« Für Erwachsene gilt das Gebot, so viel zu trinken, dass man gut und böse nicht mehr auseinanderhalten kann. Doch ist das dieser Tage möglich? 

Die Bedrohung für jüdisches Leben hat sich seit dem 7. Oktober verschärft

Ein Massenmord konnte am 7. Oktober 2023 nicht verhindert werden. Der Historiker Dan Diner sprach von einer »genozidalen Wirkung« des Hamas-Terrorangriffs mit rund 1.200 ermordeten Menschen und rund 250 in den Gazastreifen entführten Geiseln. Auch über diesem Purim, zwei Jahre danach, liegt der Schatten des arabisch-israelischen Konflikts. Antisemitismus war schon vorher da. Aber seit diesem Datum hat sich die Bedrohung verschärft. Von Universitäten bis hin zur Kunst- und Kulturszene. Unfreiwillig wurde letztes Jahr auch die langjährige Berliner Partyreihe »Karneval de Purim« Teil dieser Debatte. Seit Jahren kommen da Berlins jüdische und nicht-jüdische Feierwütige zusammen, um ein jüdisches Fest zu feiern.

Vergangenes Jahr stand das Organisations-Team vor einigen Hindernissen. Der Berliner Club »Zenner« hatte es mit dem Verweis auf den Krieg Israels gegen die islamistische Terrororganisation Hamas abgelehnt, als Veranstaltungsort zu dienen. Und das, obwohl es sich nicht um eine israelische, sondern eine jüdische Party handelt. Damals konnte mit dem Club »Renate« ein Ausweichort gefunden werden, der auch dieses Jahr am Samstag dem bunten Partyvolk eine Heimat geben wird.

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Die Zeit zum Weinen und die Zeit zum Lachen fallen oft zusammen

Im Judentum liegen Trauer und Freude sehr nah beieinander oder sind vielleicht sogar untrennbar verflochten. Laut dem Buch Kohelet von König Salomon gibt es beispielsweise »eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz«. Israel ist seit seiner Gründung im Jahr 1948 von dieser Gleichzeitigkeit durchdrungen. Während Israelis gerade ihre Kostüme vorbereiten, haben andere noch die schrecklichen Bilder und Videos des 7. Oktobers vor Augen. Viele von ihnen stehen regelmäßig auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv, und kämpfen dafür, dass die letzten derjenigen, die in den Gazastreifen verschleppt wurden, endlich freikommen. Manche trauern auch um tote Angehörige sowie Freundinnen und Freunde. 

Ein besonders schmerzhafter Fall ist das Schicksal der Familie Bibas. Die Hamas entführte die deutsch-israelische Staatsbürgerin Shiri Bibas mit ihren beiden kleinen rothaarigen Söhnen, dem vierjährigen Ariel und dem neun Monate alten Kfir aus dem Kibbuz Nir Oz. Ein prominentes Foto der Familie zeigt sie alle in Batman-Kostümen, weshalb es dieses Jahr viele Aufrufe gibt, sich an Purim als Batman zu verkleiden, um ihrer zu gedenken und ihr Andenken zu ehren. Inzwischen ist die Familie wieder zu Hause. Vater Yarden, der von seiner Frau und seinen Kindern getrennt wurde, bereits seit dem 1. Februar 2025 – als einziger Überlebender. Heute sehen wir das Bild der Familie im Batman-Kostüm: Sie wurde nahezu ausgelöscht – Shiri, Ariel und Kfir wurden ermordet. 

Ist es angesichts des Schmerzes und der Verluste überhaupt angemessen, ausgelassen zu feiern? Doch inmitten des Grauens finden manche gerade darin Trost, ein Akt des Widerstands und der Hoffnung in dunklen Zeiten. Ob und wie man an diesem Purim feiern will, muss man wohl selbst entscheiden. In der Ausnahmesituation, in der sich jüdische Communities seit dem 7. Oktober 2023 weltweit befinden, gibt es kein richtig oder falsch. 

Purim als Lichtschalter in Zeiten der Dunkelheit

Auch die Veranstalter haben sich anscheinend intensiv mit dieser Frage beschäftigt. So heißt es in der Ankündigung: »Heutzutage ist es nicht einfach, Jude in Berlin zu sein, oder anderswo in der Welt. Aber wisst ihr was? Das ist uns nicht neu. Wo Dunkelheit herrscht, werden wir der Lichtschalter sein. Karneval de Purim kehrt trotz und gerade wegen all dem zurück, um den Nachthimmel von Berlin mit Liebe zu färben und die gemütlichen Räume von Renate - wahrscheinlich zum letzten Mal - mit Lächeln und süßem Eskapismus zu füllen.« 

So werden auch in dieser Samstagnacht Menschen unterschiedlicher Nationen, Religionen oder Geschlechter in Berlin-Friedrichshain zusammenkommen und gemeinsam feiern. Gerade deswegen kann die Party als Safe-Space für die vielfältige jüdische Community in Berlin dienen, die einen Ausgleich zum oft belastenden und antisemitischen Alltag sucht – obgleich Polizei und Sicherheit vor Ort für den Schutz der Feiernden sorgen.

Die Philosophin Hannah Arendt stellte in ihrem Essay von 1941, fest, dass der »jüdische Lebenswille (...) berühmt und berüchtigt« sei. So können auch die Feierlichkeiten von Purim Teil dieses Jahrtausende währenden Lebenswillens sein. Die 21-jährige Mia Schem tanzte auf dem Nova-Festival, wurde von der Hamas entführt und verbrachte 54 Tage in Geiselhaft in Gaza, bevor sie am 30. November 2023 wieder nach Hause nach Israel zurückkehren konnte. Nach ihrer Rückkehr tätowierte sie sich das Datum des Terrorangriffs auf den Arm mit dem Satz »We will dance again«.

Der Autor ist Publizist und lebt in Berlin.

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