Hufeland, Ecke Bötzow

Zwischen Halstuch und Colt Seavers

Lea Streisand Foto: Stephan Pramme

Berlin ist bekannt für seine Ecken: Es gibt Männer, die an ihnen zu Originalen wurden, es gibt Kneipen, in denen Zeit in Biergläsern gemessen wird, und natürlich gibt es die legendären Filme über sie. Nur gute 20 Minuten Fußweg von Berlin – Ecke Schönhauser befindet sich noch eine weitere Ecke.

An ihr steht zwar niemand, es gibt auch keinen bekannten Film, aber nach ihr ist ein Buch benannt: nämlich Hufeland, Ecke Bötzow, der neue Roman der Berliner Autorin Lea Streisand.

Teppichstange Dort also, im Prenzlauer Berg, wo sich die 650 Meter lange Hufeland- und die beinahe doppelt so lange Bötzowstraße kreuzen, wohnen im Jahr 1986 Franzi, Rico und Ronny. Eine Kindheit mit Schweinebammeln an der Teppichstange, mit Kino vom Sero-Geld und Schallplattenhörspielen.

Eine Kindheit zwischen Pionierhalstuch und Colt Seavers. Eine Kindheit in einem Land, das es keine fünf Jahre mehr geben sollte, eine Geschichte über die Leere, die Freiheit und die Selbstfindung danach.

Streisands Heldin heißt Franzi. Gerade erst ist sie mit ihren Eltern aus einem hellen Neubau in Adlershof in die dunkle Altbauwohnung gezogen, und schon ist sie mittendrin – im Prenzlauer Berg. Aber von wegen freche Hinterhofgöre: Franzi beobachtet mit wachen Kinderaugen – glücklicherweise niemals altklug –, was um sie herum geschieht.

Die Schulanfängerin fühlt den Mut ihrer Mutter bei der Kommunalwahl, fängt an, Tagebuch zu schreiben, und spürt die traurige Wut ihrer Freundin Annabel, weil deren Vater weg ist und die Mutter darüber verzweifelt.

Westen Denn weg, das heißt in Franzis Kindheit: in den Westen gegangen. Das andere Land, das den Kindern als schlechtes Beispiel verkauft wurde, dessen Marken, Serien und Vorzüge doch fast jedes DDR-Kind kannte. Darüber in der Schule zu reden, war für Franzi und ihre Freunde eigentlich tabu, aber hin und wieder taten sie es natürlich doch. Allein dieser subtilen Komik und des lebensnahen Erzählens wegen ist das Buch ein unverzichtbarer Beitrag im 30. Jahr des Mauerfalls.

Lea Streisand, die bei Radio Eins die Hörkolumne War schön jewesen hat und ihre »Geschichten aus der große Stadt« in mehreren Büchern veröffentlichte, beschreibt mit großer Leichtigkeit die Zeit vor und nach der Wende, die für die damals neun- oder zehnjährigen Kinder nicht nur die Erfüllung von Sehnsüchten bedeutete, sondern auch das abrupte Ende eines Lebens, das es so nicht mehr geben sollte. Viele wuchsen daran, noch mehr suchten nach einem neuen Sinn, und einige zerbrachen an zu viel Wende.

Streisand zeigt aber auch Erwachsene, die sich mit neuen Werten und anderen Realitäten auseinandersetzen müssen und sich dabei oftmals nicht leichttun. Sie beschreibt Teenager, die Konsum, Yogi-Tee und Nirvana entdecken, und junge Menschen, die mit den Füßen im Osten, mit dem Kopf im Westen sind und denen die Welt offensteht.

1. Mai Lea Streisands Roman ist ein Kindheitsbuch für Erwachsene um die vierzig, die vielleicht eine ähnliche Kindheit hatten wie die von Franzi in der Hufeland, Ecke Bötzow. Es ist aber auch ein Buch für Erwachsene und wiederum deren Kinder, die nichts mehr wissen müssen von Sätzen wie »Das darfst du aber nicht in der Schule erzählen!«, von politisch vorgegebenen 1.-Mai-Demonstrationen und von Pionierleitern.

Die nicht mehr wissen, dass Supermärkte Kaufhallen sind, dass in der Hufeland, Ecke Bötzow auch mal alte Menschen wohnten und nicht überwiegend Cafés waren, und für die, deren Kindheit für einen kurzen Moment fast am Schönsten war – im Schweinebammel an der Teppichstange.

Lea Streisand: »Hufeland, Ecke Bötzow«. Ullstein, Berlin 2019, 224 S., 16,99 €

Medien

Michel Friedman ist neuer Herausgeber des »Aufbau«

Die Zeitschrift »Aufbau« erfindet sich mal wieder neu. Diesmal soll Michel Friedman das 90 Jahre alte Blatt modernisieren. Der Journalist und Autor hat viel vor

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025

Oscars

»Der Brutalist« und »A Complete Unknown« nominiert

Adrien Brody und Timothée Chalamet sind auch als »Beste Hauptdarsteller« nominiert

 23.01.2025

Kulturkolumne

Sprachnachrichten als Zeitzeugnisse

WhatsApps auf Jiddisch von Regina Steinitz aus Israel

von Maria Ossowski  23.01.2025

Kino

»The Brutalist« - Packendes Filmepos über die Gegenwart der Vergangenheit

In 70mm gedrehtes herausragendes Filmepos über einen dem Holocaust entronnenen Architekten, der in den USA mit einem gigantischen Bauwerk seinen Traumata zu entkommen hofft

von Rüdiger Suchsland  23.01.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  23.01.2025

Lebensmelodien

Musik ist die beste Rache

Am 27. Januar erinnert die UN-Vollversammlung mit Werken verfolgter jüdischer Komponisten an die Schoa – das Projekt entstand in Berlin-Schöneberg

von Ayala Goldmann  23.01.2025

Mel Gibson

»Make Hollywood Great Again«

US-Präsident Donald Trump hat den Regisseur und Schauspieler zu seinem »Sonderbotschafter« ernannt – zusammen mit Sylvester Stallone und Ron Voigt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.01.2025

Songcontest

Überlebende des Nova-Massakers vertritt Israel beim ESC

Yuval Raphael ist noch ein Neuling in der Musikbranche

 23.01.2025

Meinung

Kennen Sie Abed Hassan?

Medien feiern den Berliner als »deutsche Stimme aus Gaza«, dass er den Terror der Hamas verharmlost, scheint sie nicht zu stören

von Susanne Stephan  23.01.2025 Aktualisiert