Ist es erlaubt, nach Auschwitz zu lachen? Ist es erlaubt, nach dem 7. Oktober in die Ferien zu fahren? Ja und nein.
Natürlich ist es erlaubt – wer soll es einem verbieten? Der liebe Gott? Dazu kann ich nur meinen Lieblingswitz wiederholen: »Moishe und Aaron erzählen sich Witze über Auschwitz. Sie lachen wie irre. Gott kommt vorbei. Er ist ganz konsterniert und sagt: ›Wie könnt ihr Witze machen über Auschwitz?!‹ ›Das verstehst du nicht‹, antworten ihm die beiden, ›du warst ja nicht da!‹.«
Also, es tut gut, nach Auschwitz zu lachen, was bleibt einem sonst übrig? Aber das Lachen kann einem auch im Hals stecken bleiben. So ähnlich verhält es sich mit dem 7. Oktober 2023. Man darf in die Ferien fahren, aber es kann passieren, dass der Kopf und die Seele keinen Urlaub nehmen.
Die Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt täglich.
Ich höre im Stundentakt Nachrichten und frage mich tagaus, tagein: Leben sie noch? Leben diese armen Geiseln, diese Menschenkinder noch? Werden sie gerettet werden? Und wenn sie, bitte, lieber Gott, gerettet werden, wie wird ihr Leben danach sein? Werden sie wieder in die Schule gehen können? Zu einem Festival, zur Arbeit? Oder wird ihr Leben zerstört sein von dem, was sie durchmachen mussten? Sind sie so traumatisiert, dass nichts mehr geht? Werden sie Resilienz entwickeln, wie ich es bei etlichen Schoa-Überlebenden erlebt habe? Sie fanden einen Weg zurück ins Leben, obwohl die Nazis ihnen die Hölle angetan hatten. Ich habe sie immer so bewundert.
Dann ist es vorbei mit meiner Nachtruhe, und ich trinke Milch und höre Podcasts, die mich beruhigen sollen, es aber nicht tun. Bis es dämmert und ich im Sessel einnicke.
Ich lese Artikel von klugen Philosophen über Antizionismus gepaart mit Antisemitismus. Ich lese von Studenten und Professoren an deutschen und amerikanischen Universitäten und bin unsicher, ob diese lesen.
Ich bekomme Anfeindungen per Post und per Mail, und die Grenze zwischen Freund und Feind verschwimmt täglich.
Von Wien auf den Peloponnes
Meine Freundin Barbara ist von Wien auf den Peloponnes gezogen, ihr Alterssitz, sagt sie. Sie ruft mich an und meint, ich müsse mal an etwas anderes denken und sie besuchen kommen. Ihre Mutter ist mit dem Kindertransport von Wien nach England gekommen, aber mit 88 ist sie zurück nach Wien, Barbara war damals 40 und ist mitgezogen. Jetzt ist Barbara fort aus Wien, zu viele Depperte dort, wie sie sagt …
Also fahre ich nach Athen und mit dem Bus weiter, bis mich das Meer glitzernd empfängt. Auch hier gibt es Zeitungen. Die kann ich zwar nicht lesen, aber ich sehe die Bilder von palästinensischen Zivilisten, es schnürt mir das Herz zu.
»Ja, es geht, man kann gleichzeitig über das von der Hamas verübte Massaker verzweifeln und mit den Palästinensern mitfühlen. Das Herz ist groß genug!«
Das waren meine Standardsätze in den letzten Wochen, bevor ich losfuhr. Sie waren notwendig, um meiner immer aggressiver werdenden Umgebung etwas entgegenzusetzen. Sie zeigten aber auch meine Hilflosigkeit der Situation gegenüber.
Inzwischen haben sich einige jüdische Freunde aus Berlin verabschiedet. Sie haben sich Wohnungen gemietet in Basel oder Zürich. In der Schweiz würden sie sich sicherer fühlen, erklären sie mir und fragen, ob ich mitkommen wolle. »Ich will nicht weg«, stammele ich leise. »Du wirst weg müssen«, antworten sie entschieden.
Ich bin eine Jüdin. Aber ich bin doch so vieles mehr! Frau, Künstlerin, Mutter, Mensch!
Das alles ist nicht 1933, sondern 2024, und ich komme mir vor wie im falschen Film. Zum ersten Mal geht es nicht meinen Großeltern oder Eltern an den Kragen, sondern mir. Weil ich eine Jüdin bin. Aber ich bin doch so vieles mehr! Frau, Künstlerin, Mutter, Mensch! Wie kann ich das Menschsein schützen? Wie?
Fette, reife, rote Tomaten, viel Feta, das Meer und reichlich Retsina bringen mich auf andere Gedanken, obwohl der Krieg nah ist, sehr, sehr nah. Ich trinke Nescafé frio, höre Bouzouki und starre auf die Wellen, die vom Wind bewegt vor sich hin plätschern. Eine schöne Welt haben wir!
Und dann höre ich Hebräisch, direkt am Tisch neben mir. Am nächsten Tag wieder im Supermarkt, später am Strand. Im Café erfahre ich, dass der Landstrich voll sei von Israelis, sie würden Häuser suchen, zum Mieten, zum Kaufen, sie wollen weg, so schnell wie möglich. Sie wollen hierher, das ist nah an zu Hause und ein bisschen ähnlich …
Bisher wusste ich vor allem von vielen, die das Land nicht verlassen wollten, denen die Gemeinschaft mehr bedeutete als die eigene Sicherheit. Hier treffe ich auf andere. Auf die, die die kriegerische Situation nicht mehr aushalten. Esthi hat über Jahre in ihrem Kibbuz gehört, wie die Tunnel gebaut wurden. »Der Libanon ist ein einziger Tunnel«, sagt sie, »ich hörte sie Tag und Nacht bohren. Und Jossi hat eine Baufirma, und seine Arbeiter sind in Rafah und werden so bald nicht mehr zum Arbeiten kommen. Wenn sie überhaupt überleben. Ich traue unserer Regierung nicht.«
Ich bin in Griechenland, aber es fühlt sich an wie die Shenkin-Straße in Tel Aviv
Ich bin in Griechenland, aber es fühlt sich an wie die Shenkin-Straße in Tel Aviv. Wenn man sich die Berge etwas röter vorstellt, könnte es auch Eilat sein.
Die einen gehen fort aus Eretz Israel, die anderen aus Berlin. Denn wenn man die Augen in Zürich zukneift, könnte man glauben, man sei am Wannsee. Vielleicht.
Die Sonne brennt. Der Feigenbaum spendet mir Schatten. Vorwiegend Rentner sind hier, ein Meer an Weißhaarigen bevölkert das Café. Überwiegend Frauen, Österreicherinnen, Engländerinnen, Deutsche, die hierher ausgewandert sind. Ich frage Barbara, wo alle Männer sind? Tot? Haben sie alle ihre Frauen verlassen, oder wurden sie von diesen vergiftet? Sie sind zu alt, um im Krieg zu sein, oder?
Barbara lächelt. »Es ist schön hier, nicht wahr?«, antwortet sie schließlich.
Man kann an den Hamas-Gräueln verzweifeln – und mit den Palästinensern mitfühlen.
»Meine Mutter ist mit dem allerletzten Kindertransport am 9. November 1938, es war die ›Reichskristallnacht‹, aus Wien herausgekommen. Später hat mir ihre Cousine, die Journalistin wurde, erzählt, dass sie nur ganz helle, ganz gesunde Kinder genommen haben, aus wohlhabenden, gebildeten Familien. 10.000 Kinder aus gutem Hause. Waisenkinder haben sie dagelassen, auch die mit dunklerem Hautton, oder wenn sie krank waren. Diese wurden dann deportiert. Das hast du nicht gewusst, oder?«
Nein, das habe ich nicht gewusst. Es gibt immer wieder die ungeheuerlichsten Berichte. Flucht, Vertreibungen, Völkerwanderungen aller Orten.
Flucht, Vertreibungen, Völkerwanderungen aller Orten
»Aber wir haben Glück, wir sind freiwillig hier. Für die einen Zuflucht, für die anderen Wärme, manche brauchen Ruhe. Viele können mit ihrem Heimatland nichts mehr anfangen. Gibt es ein schöneres Altenheim?«
Barbara hat recht. Nicht nur als Altenheim ist der Peloponnes traumhaft. Ich liebe Griechenland. Die Leute, das Land, das Essen, aber es gibt keinen Ort, wo es vorbei ist. Wo man vergisst. »Kein Ort. Nirgends.« Die Schriftstellerin Christa Wolf wusste das schon immer. Und das ist wohl auch richtig so. Denn es ist ja auch nur eine einzige Welt, in der wir leben.
Ein kleines Intermezzo, meine Ferien, dann reise ich zurück und stürze mich wieder in das Tohuwabohu des Berliner Lebens.
Die Autorin ist Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin.