Lesung

Zwanzig Jahre Schreiben

»Als das Buch fertig war, konnte mein Körper endlich wieder frei atmen«: Zeitzeuge und Autor Shalom Eilati Foto: Marco Priske / Stiftung Denkmal

Lesung

Zwanzig Jahre Schreiben

In seiner Autobiografie berichtet Shalom Eilati erstmals davon, wie er die Schoa überlebte. Nun stellte er das Buch in Berlin vor

von Nils Kottmann  17.05.2016 14:07 Uhr

Es ist ein Schicksal, das auch heute noch so verstörend wie unfassbar ist. Als Achtjähriger wurde Shalom Eilati 1941 zusammen mit seinen Eltern in das Ghetto der litauischen Stadt Kowno deportiert. Dort lebte und überlebte der Junge gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester mehr als drei Jahre, bevor er kurz nach der sogenannten Kinderaktion im März 1944 flüchten konnte. Sein Vater wurde nach ihrer Umsiedlung in das Ghetto nach Riga deportiert und dort von den Nazis ermordet.

Anlässlich der deutschen Erstveröffentlichung von Shalom Eilatis Autobiografie Ans andere Ufer der Memel. Flucht aus dem Kownoer Ghetto berichtete Eilati vergangene Woche in Berlin von seinem Überleben während der NS-Zeit. In Anwesenheit des Autors las der Schauspieler Christian Berkel zudem mehrere Kapitel aus dem Buch. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen und Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Zwangsarbeit In bewegenden Worten sprach Eilati an diesem Abend darüber, wie nach seiner Flucht aus dem Ghetto für ihn die »stille Zeit« begann, wie er sie nennt. Während seine Mutter als Zwangsarbeiterin in den Fabriken arbeitet und Nachbarn die Schwester beaufsichtigen, spielt er allein gelassen von morgens bis spät nachts mit seinen Freunden im Ghetto.

Im Spiel freundet er sich mit einem österreichischen Juden an, der ihm großen Respekt einflößt. Als Eilati die Wohnung des Jungen sieht, vollgestellt mit etlichen Büchern und einer beeindruckenden Mineraliensammlung, hält er ihn für einen Magier, »der es geschafft hat, eine Barriere zwischen sich und dem Ghetto zu errichten«, so Eilati in seiner Autobiografie.

Nachdem die SS bereits 1942 damit begonnen hatte, schwangere Frauen aus dem Ghetto zu erschießen, sollten bei der »Kinderaktion« am 27. März 1944 alle Kinder aus dem Ghetto deportiert werden. Die SS stürmte das Ghetto und durchsuchte Haus für Haus, während Shalom Eilati sich mit seiner Mutter unter einem Waschzuber im Keller versteckte. Er überlebte nur durch einen glücklichen Zufall, denn als eine Gruppe SS-Soldaten den düsteren Keller betrat, fiel ihnen auf, dass sie ihre Taschenlampen vergessen hatten und machte schließlich auf dem Absatz kehrt.

Räumung Als seiner Mutter bewusst wurde, dass nun auch die Kinder umgebracht werden sollten, organisierte sie für ihren Sohn die Flucht aus dem Ghetto. Während des morgendlichen Zählappells schlich er sich, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, mit seiner Mutter zum Fluss und wurde mit einem Boot aus dem Ghetto gerettet. Auf der anderen Uferseite erwartete ihn eine Litauerin, die Eilati für den Rest des Krieges versteckte. Auch seine Schwester wurde aus dem Ghetto geschmuggelt, jedoch zwei Monate vor Kriegsende von ihren Beschützern an die Nazis ausgeliefert. Seine Mutter wurde bei der Räumung des Ghettos erschossen.

Trotz allem scheint es so, als ob es Shalom Eilati gelungen sei, im Laufe der Jahrzehnte eine Barriere zwischen sich und den Erlebnissen im Ghetto zu errichten. »Meine kindliche Naivität hat mich vor dem Terror der Nazis bewahrt«, betonte er im Gespräch mit Christian Berkel.

Er brauchte dennoch 20 Jahre, um seine 1999 erschienene Biografie zu vollenden. Darin schreibt er: »Es tat weh, alte Verbände herunterzunehmen, die längst mit dem Fleisch verwachsen waren, doch als das Buch fertig war, konnte mein Körper endlich wieder frei atmen.«

Shalom Eilati: »Ans andere Ufer der Memel. Flucht aus dem Kownoer Ghetto«. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2016, 325 S., 7,50 €

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  25.04.2025

100 Jahre "Der Prozess"

Was Kafkas »Der Prozess« mit KI und Behörden-Wirrwarr gemeinsam hat

Seine Liebesworte gehen auf TikTok viral. Unheimlich-groteske Szenen beschrieb er wie kein Zweiter. In Zeiten von KI und überbordender Bürokratie wirkt Franz Kafkas Werk aktueller denn je - eben kafkaesk

von Paula Konersmann  25.04.2025

Reykjavik

Island fordert Ausschluss Israels vom ESC

Das Land schließt sich damit der Forderung Sloweniens und Spaniens an. Ein tatsächlicher Ausschluss Israels gilt jedoch als unwahrscheinlich

 25.04.2025

Popkultur

Israelfeindliche Band Kneecap von zwei Festivals ausgeladen

Bei Auftritten verbreiten die irischen Rapper Parolen wie »Fuck Israel«. Nun zogen die Festivals Hurricane und Southside Konsequenzen

von Imanuel Marcus  25.04.2025

Berlin/Brandenburg

Filmreihe zu Antisemitismus beim Jüdischen Filmfestival

Das Festival läuft vom 6. bis 11. Mai

 25.04.2025

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  24.04.2025

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  24.04.2025

Imanuels Interpreten (8)

Carly Simon: Das Phänomen

Die Sängerin und Songschreiberin mit jüdisch-deutschem Familienhintergrund führt ein aufregendes, filmreifes Leben – Verbindungen zu einer singenden Katze, einem rollenden Stein, zu Albert Einstein und James Bond inklusive

von Imanuel Marcus  24.04.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus  24.04.2025