Eva Evans kämpft mit den Tränen. Sie hasse das deutsche Wort »Ge-burts-ur-kunde«, sagt die 97-jährige Londonerin. In der Nazi-Zeit hat sie als junge Frau mit knapper Not Berlin verlassen und dann in Großbritannien eine sichere Heimat gefunden. 80.000 Juden flohen während des Dritten Reiches an die Themse.
Nun sortiert unter Evas erzürnten Blicken ihre Tochter Janet Lew Einbürgerungspapiere mit deutschem Bundesadler. Janet will London verlassen. Wie vielen anderen Juden ist ihr England nach dem Brexit fremder geworden. Und so wie viele andere Juden ist sie nun neugierig auf Deutschland. Das Land, aus dem ihre Familie einst hatte fliehen müssen. Die Reportage
»Re: Auswandern nach Deutschland? Londons jüdische Gemeinde und der Brexit« am Dienstag um 19.40 Uhr auf Arte beleuchtet das Thema und zeigt, dass durch viele Familien dieser Tage ein tiefer Riss geht.
Die Macher der Doku begleiten auch Pippa Goldschmidt. »Das ist aber schön, dich zu sehen«, sagt die Schriftstellerin zur Sprachsoftware.
Ihre Hand unterstreicht den Satz mit einer Geste wie ein vortragender Dichter. Hier lernt jemand mit Leidenschaft die deutsche Sprache. Ihr britischer Akzent ist der Ex-Londonerin bei der Übung kaum anzuhören.
Pippa ist die Enkelin eines geflüchteten deutschen Juden. Obwohl ihr Großvater Ernst Goldschmidt im Ersten Weltkrieg für Deutschland in den Schützengräben der Westfront kämpfte, musste er Jahre später in seiner Heimat um sein Leben fürchten. Zuflucht vor den Nazis fand er in Großbritannien. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er gegen Deutschland.
»Als er nach England flüchtete, musste er die Sprache lernen«, erläutert die Enkelin. Er habe sich integrieren müssen, die deutschen Flüchtlinge hätten sich damals in der Öffentlichkeit unauffällig verhalten müssen. So wie Opa Ernst will nun auch Pippa eine Sprache schnell lernen, von der sie nur Grundkenntnisse hatte. Nur umgekehrt.
Pippa hat ihre Heimat Anfang 2020 verlassen, um sich in Deutschland auf die Spuren ihres Großvaters zu begeben. Sie hat ein neues Leben in Frankfurt/Main begonnen und schreibt ein Buch über ihre Familie.
Obwohl in London geboen, fühlt sich Janet in der deutschen Kultur heimisch. Ihre Mutter hat ihr als Kind Deutsch beigebracht. »Ich identifiziere mich überhaupt nicht mit britischen Juden. Ich habe mich nicht nie englisch gefühlt. In der Synagoge fühle ich mich anders als die anderen britischen Juden. Ich hab eine völlig andere Geschichte. Wir sind als Außenseiter aufgewachsen.« Janet hat vor zwei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Auch Tochter Annie will raus aus dem Land. Sie fühlt sich eindeutig als Britin - sieht aber ganz pragmatisch nach dem Brexit die Vorteile eines EU-Passes. Eine sehenswerte Arte-Reportage zu einem spannenden Thema.
«Auswandern nach Deutschland? Londons jüdische Gemeinde und der Brexit» läuft am Dienstag um 19.40 Uhr auf Arte.