Als Johnny Cash am 12. September 2003 in Nashville starb, griff Bob Dylan zum Stift und verfasste einen bewegenden Nachruf. Vom musikalischen »Nordstern« war da die Rede, von einem Idol, an dem er sich – egal, in welchem Experiment er gerade steckte – orientieren konnte, von einer »kräftigen und bewegenden Stimme, die so tief und reich und besonders und mysteriös war – alles zur gleichen Zeit«.
Und dann erwähnte Dylan in seinem Nachruf noch einen Leserbrief, den die Country-Legende Johnny Cash rund 40 Jahre früher, 1964, veröffentlicht hatte: ein flammendes Plädoyer für den damals jungen Dylan, der seine Fans und seine Plattenfirma gerade verprellt hatte, als er einen vollkommen neuen Weg einschlug und statt Protestsongs plötzlich introvertierte Monologe auf Another Side of Bob Dylan vortrug. »Haltet die Fresse«, rief Cash den Dylan-Kritikern damals entgegen und forderte: »Lasst ihn singen!«
PROBEN Der Country-Gott Cash aus einer Baptistenfamilie im tiefsten Arkansas verteidigte hier den experimentierfreudigen Juden Dylan aus Minnesota. Und mehr noch: Ausgerechnet der zehn Jahre ältere Cash, der ein Leben lang auf der Country-Schiene fuhr wie der ratternde Rhythmus seiner Musik, kämpfte für das Recht des damals erst 22-jährigen Dylan auf Abenteuer und Abwege.
Die Ergebnisse der Sessions wanderten in einen Safe und wurden nie veröffentlicht.
Eine Haltung, die Dylan nicht vergessen sollte, als er drei Jahre später persönlich in Nashville auftauchte, um hier John Wesley Harding und Nashville Skyline aufzunehmen. Natürlich besuchte er auch Johnny Cash, bei dem er wohnte und mit dem er in die Columbia-Studios zu gemeinsamen Sessions ging.
Die Ergebnisse dieses Aufeinandertreffens wanderten in einen Safe und wurden nie veröffentlicht. Irgendwann sickerten Teile – in schlechter Tonqualität – an die Öffentlichkeit. Aber erst jetzt sind die Proben der so grundverschiedenen, im Geiste einander aber so ähnlichen Giganten auf drei Platten (auf CD und Vinyl) erschienen. Das Set Travelin’ Thru ist eine Trouvaille der Musikgeschichte.
LACHEN Die Mitschnitte der ersten Session im Columbia-Studio vom 17. Februar 1969 lassen das Musikantentum der beiden hören, den Spaß, einander zuzuhören, in Dialog zu treten – und die Musik gemeinsam als Experiment zu verstehen, bei dem das Scheitern, der falsche Ton oder die vergessene Zeile durch gemeinsames Lachen und Herumblödeln kompensiert werden.
In den unterschiedlichen Takes von »I Still Miss Someone« und besonders in den Proben zu »Don’t Think Twice, It’s All Right« ist keine Aufnahme-Perfektion zu hören, sondern das Herantasten an einen gemeinsamen Drive. Auch die Begegnung am Folgetag, unter anderem mit Proben zu »Mountain Dew«, »Careless Love« oder »I Still Miss Someone«, verrät viel über die musikalische Herangehensweise und den gegenseitigen Respekt zwischen Cash und Dylan. Für Travelin’ Thru wurden nicht die perfektesten Takes ausgesucht, sondern jene, in denen die Dokumentation ihrer Arbeit im Vordergrund steht. Egal, ob bei »Matchbox« oder »Ring of Fire« – es geht stets um die Arbeitsatmosphäre.
Man könnte bedauern, dass Dylan und Cash den Beginn ihrer musikalischen Freundschaft nicht bis zum Ende geführt und zur Albumreife gebracht haben. Aber vielleicht besteht gerade darin auch der Reiz dieser Aufnahmen: Nur so wird die Intimität greifbar, die in einem Hochglanzalbum der damals größten Musik-Giganten sicherlich wegpoliert worden wäre.
FERNSEHEN Allein das Duett »Girl from the North Country« hat es auf Dylans Album Nashville Skyline geschafft (spannend, nun die Probe n zu dieser Aufnahme zu hören, in denen beide sich an die finale Version herantasten). Im Begleitheft zu Travelin’ Thru ist übrigens ein Brief von CBS Records abgedruckt, in dem die Plattenfirma dem Sänger zur millionsten verkauften Platte in den USA gratuliert. Johnny Cash hatte den Text auf der Rückseite des Albums beigesteuert.
1969 fand die Zusammenarbeit der beiden eine publikumswirksame Abrundung, als Dylan nach seinem Unfall in Cashs Fernsehshow im Roman Auditorium auftrat und beide »I Threw It all Away« und »Girl from the North Country« sangen. Cash ist seinen Country-Weg auch danach weitergegangen, und Bob Dylan hat bis heute immer wieder neue Wege gesucht.
Country, so heißt es im Begleitheft zu Travelin’ Thru, sei eine Konstante seiner Kindheit – und habe ihn bereits aus dem Radio geprägt, als er noch Schüler in Minnesota war. Fakt ist, dass er in dieser Zeit wohl eher von einem anderen Idol geprägt wurde, das auch Johnny Cash prägen sollte: von Elvis Presley.
stil Anders als Cash, der sich und seinem Stil ein Leben lang treu geblieben ist, hat Dylan den Country-Zug wieder verlassen und sich so ziemlich jeder musikalischen Sparte zugewandt, die ihn interessierte. Manchmal hat er sich dabei auf Abwege begeben, und oft ist er dafür angefeindet worden, dass er sich nicht festlegen lässt. Gerade in diesen Momenten wäre eine Stimme wie die von Johnny Cash zuweilen hilfreich gewesen – jemand, der einfach mal ein »Lasst ihn singen!« in die Welt gerufen hätte.
»Haltet die Fresse«, rief Cash den Dylan-Kritikern entgegen und forderte: »Lasst ihn singen!«
Aber ist Dylan wirklich nirgendwo angekommen? Bis heute nicht? Ist sein ganzes Dasein als Literat und als Sänger nur eine andauernde Veränderung? Kann jemand wie er gar nicht stehen bleiben? Selten hört man Dylan in einer seiner Aufnahmen so angekommen wie hier, in den nicht zur Veröffentlichung gedachten Mitschnitten seiner Begegnung mit Johnny Cash.
In diesen Momenten, in denen er experimentiert, nicht als Musiker, sondern als Musikant, als einer, der in der Musik, im Musikmachen, ruht und zu Hause ist – als einer, der sich traut, an der Seite seines Mentors ein bisschen stehenzubleiben, auf seiner Durchreise durch Nashville.
Bob Dylan: »Travelin’ Thru, 1967–1969: The Bootleg Series Vol. 15. Featuring Johnny Cash«. 3 CDs/LPs, Sony Music