Die Orte der eigenen Kindheit können, wenn man sie als Erwachsener noch einmal aufsucht, ihren Zauber verlieren. Grau wirken sie bisweilen, wo die Erinnerung doch voller Farben ist, und eigentümlich geschrumpft, wo früher doch alles monumental erschien. Man fühlt sich ausgerechnet dort fremd, wo man einst Geborgenheit erfuhr.
KOntrast Auswanderer erleben diesen Kontrast mitunter noch schärfer. Den Ort, den man für immer verlassen hat, nach Jahren wieder aufzusuchen, kann eine irritierende Erfahrung sein. In seinem neuen Buch Eine Formalie in Kiew bringt Dmitrij Kapitelman diese Irritation eindrücklich auf den Punkt: »Die Vorstellung, dass sich an dem Ort, wo unser erstes Staatsfamilienleben endete, immer noch eine Gegenwart vollzieht, hat etwas Unvorstellbares.«
Kapitelmans Eltern kamen vor rund 25 Jahren als »Kontingentflüchtlinge« nach Deutschland.
Ja, auch nachdem man mit vollen Taschen und Koffern in ein anderes Land aufgebrochen ist, geht das alltägliche Leben in Minsk und Kiew, Moskau und Sankt Petersburg, Baku und Taschkent ungerührt weiter. Diese einfache Tatsache verdrängen viele Auswanderer, auch zum Schutz ihrer eigenen Psyche. Denn sie blicken nach vorn, und ihr voller Ehrgeiz gilt zunächst dem neuen Land.
Für etliche Juden aus der auseinandergebrochenen Sowjetunion, auch für Kapitelmans Familie, war dieses neue Land das wiedervereinigte Deutschland.
biografisch Vielleicht ist es kein Zufall, dass Dmitrij Kapitelmans Eine Formalie in Kiew pünktlich zum 30. Jahrestag des Beschlusses der deutschen Ministerpräsidentenkonferenz erscheint, sowjetische Juden als
»Kontingentflüchtlinge« aufzunehmen. Und wie schon in seinem 2016 erschienenen Erstling, Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, nutzt Kapitelman die literarische Bühne auch diesmal für eine kritische Betrachtung der psychischen und kulturellen Effekte der postsowjetisch-jüdischen Einwanderung nach Deutschland. Eine Formalie in Kiew ist, ebenso wie das Debüt, nicht als Roman ausgewiesen. Von einer starken autobiografischen Färbung des Buches ist daher auszugehen. Den Rahmen bildet eine Reise des 1986 geborenen Autors und Ich-Erzählers in die ukrainische Hauptstadt Kiew. Rund 25 Jahre, nachdem seine Familie nach Deutschland ausgewandert war, besucht Kapitelman erstmals wieder seine Geburtsstadt.
Durch das aus Kindheitstagen bekannte Stadtzentrum bewegt er sich fast wie ein Tourist: »Berühmte Reiterstatue, von der ich nicht weiß, wie sie heißt. Berühmte Kirche und gleich noch eine, von denen ich keinen Schimmer habe.« Den eingangs erwähnten Kontrast empfindet auch Kapitelman: »Je vertrauter etwas in dieser Stadt erscheint, desto fremder wird es zugleich, dass die Vertrautheit eine gebrochene ist.«
pass Eine Formalie in Kiew ist aber viel mehr als eine bloße essayistische Betrachtung über die fremd gewordene Geburtsstadt. Denn eigentlich ist Kapitelman nach Kiew gekommen, um seine Geburtsurkunde mit einer Apostille beglaubigen zu lassen. So verlangt es die sächsische Ausländerbehörde, um seine Einbürgerung zu ermöglichen. Hinter der vermeintlichen Formalie steckt eine tiefergehende Motivation. Kapitelman wird klar, »dass ich im Gegenteil einen deutschen Pass begehre, um mich von Vera und Leonid abzugrenzen«.
Vera und Leonid – das sind die Eltern des Ich-Erzählers. Um sein ambivalentes Verhältnis zu ihnen kreist ein wesentlicher Teil dieses Buches. Kapitelman zeichnet seine Eltern schonungslos und zärtlich zugleich. Nachdem die Formalie endlich erledigt ist und der erleichterte Protagonist seinen Rückflug plant, erreicht ihn ein Anruf seines in Leipzig lebenden Vaters.
Ausgerechnet in der alten Heimat, dort, wo man einst Geborgenheit erfuhr, ist man nun fremd.
Leonid möchte sich in Kiew die Zähne behandeln und medizinisch untersuchen lassen, denn: »In der Ukraine ist das alles günstiger, hat Vera gesagt, und ich habe keine Krankenversicherung mehr.« Es kommt ein ernsthaft erkrankter Vater nach Kiew, den Kapitelman buchstäblich retten muss. Später fliegt auch die Mutter nach Kiew.
Auf seiner Rettungsmission stößt Kapitelman schnell auf die in der Ukraine allgegenwärtige Korruption. Das Schmiergeld fließt bald wie selbstverständlich. Seine Tante Jana verteidigt diese Kultur: »Was ist das für ein System, in dem ihr in Deutschland lebt? Wo man so gar nichts mit persönlichen Kontakten und ein wenig Geld regeln kann? Das ist doch unmenschlich!«
Überhaupt gelingen Kapitelman einige ebenso eindrückliche wie berührende Skizzen der ukrainischen Mentalität. »Fluchen ist den Ukrainern eine allgegenwärtige soziale Erleichterungspraxis, so ähnlich wie Ihnen das manierliche Meckern über die Deutsche Bahn«, schreibt er, direkt an die deutschen Leser gewandt. Omnipräsent ist auch der seit 2019 amtierende jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyj, allerdings in seiner früheren Rolle als Fernsehkomiker. Wo Kapitelman auch hinkommt, im Fernsehen läuft gerade eine Comedysendung oder ein Film mit dem im Land so beliebten Selenskyj.
sprache Zur Verwirrung des Ich-Erzählers trägt auch die Sprachbarriere bei, verlangen doch viele von ihm das Ukrainische. Dabei ist schon Kapitelmans Auswanderer-Russisch eher rudimentär. Dass immer wieder russische Worte in die Erzählung einfließen, zeugt von einem offenen und unverstellten Verhältnis zur Muttersprache. Hier und dort scheint Kapitelman mit seinem bisweilen fehlerhaften Schriftrussisch zu kokettieren. Allzu sehr fallen diese Fehler aber nicht ins Gewicht.
Der Autor ist sich seiner holprigen Muttersprachenkenntnisse bewusst, spricht er doch vom »hundsgemeinen, verräterischen Alphabet, dessen Liedchen ich einst so gutgläubig gesungen hatte«. Dmitrij Kapitelmans Literatursprache ist ohnehin Deutsch. Wie auch schon in seinem Debüt zeigt er sich als begnadeter Sprachakrobat und Stilist mit einer besonderen Vorliebe für Alliterationen.
Dmitrij Kapitelman gelingt es, so viel sei verraten, die väterliche Gesundheitskrise zu bezwingen. Auch das zuvor beschädigte Verhältnis zu seinen Eltern vermag er in seiner Geburtsstadt zu reparieren.
Sogar die von mehreren Katzen bevölkerte Umschlag-Illustration hält, was sie verspricht. Katzenliebhaber werden auf ihre Kosten kommen. Zuallererst ist Dmitrij Kapitelman aber eine bewegende und bildstarke Reflexion über das Fremdsein im Vertrauten, über nationale Zugehörigkeit und familiären Zusammenhalt gelungen.
Dmitrij Kapitelman: »Eine Formalie in Kiew«. Hanser, Berlin 2021, 176 S., 20 €