#Genesis

Zurück auf Anfang

In München ist die Erde eine Scheibe. Sie dreht sich und verändert immer wieder ihren Winkel. Einen wirklich sicheren Standpunkt gibt es nicht. Nicht für die Schauspieler, und schon gar nicht bei den Antworten auf die Fragen, die sie verhandeln: Wann war der Moment, in dem alles aus dem Ruder gelaufen ist?

Privat, im Leben der Darsteller? Aber auch ganz allgemein, in der Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen? Über dem Erdenkreis, den Wolfgang Menardi auf die Bühne der Kammerspiele gebaut hat, schwebt ein weiterer, der das Treiben unten spiegelt. Diese quasi göttliche Perspektive erlaubt einen Blick auf die Menschlein wie in einer Petrischale.

Bereschit Der Abend hat tatsächlich etwas von einem wissenschaftlichen Experiment. Zugegeben, einem sehr unterhaltsamen. Die Theatermacherin Yael Ronen, 1976 in Jerusalem geboren, geht mit ihrer am Sonntag uraufgeführten Performance Genesis zum Beginn, zum »Starting Point« zurück. Ihre gut 100 Minuten lange Produktion (keine Pause) ist fabelhaft komisch, herrlich respektlos, mitunter entwaffnend klug und von poetischer Zartheit.

Nach Point of no Return ist Genesis die zweite Arbeit Ronens für das Haus an der Maximilianstraße. Vor zwei Jahren erzählte sie vom Amoklauf im Münchner Olympia-Einkaufszentrum und versuchte, diese Tat mit dem Video einer Überwachungskamera zusammenzubringen, das zeigt, wie im Oktober 2015 am zentralen Busbahnhof von Beer Sheva in Israel während eines Attentats Menschen fliehen. Es war eine Inszenierung, die trotz ihres überzeugenden Auftakts nur bedingt glückte – und letztlich hinter ihrem eigenen Anspruch zurückblieb.

Ganz anders Ronens Genesis. Yael Ronen und ihre sechs Darsteller beleuchten einen möglichen Startpunkt der Menschheitsgeschichte, blicken auf den Abschnitt Bereschit und reflektieren den Umgang mit der Schöpfung, das Geschlechterverhältnis, Neid und Gewalt aus heutiger Perspektive. Zudem geht es um Genderfragen und Queerness.

berührend All das inszeniert die Regisseurin auf der visuell beeindruckenden Bühne als einen Parforceritt: vorbei an Adam, Eva, Lilith, dem Sündenfall, Kain und Abel. Stets bemüht sich das Ensemble, »das Loch zu erklären zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen können«, wie es an einer Stelle heißt. Mit Tempo, Witz und in schnoddrigem Tonfall geht es um die Einsamkeit Gottes (»Er kann nicht einmal nach Hause gehen, weil er schon da ist«), um patriarchale Strukturen in der Tora (»Ganz offensichtlich hat er ein Problem mit Frauen«), aber auch um die alternativen Schöpfungsmythen der Japaner und Ägypter.

Gespielt wird das Ganze von einem hoch engagierten Ensemble, aus dem vor allem Zeynep Bozbay mit einem derben, aber wahrhaftigen Lilith-Solo (»Ich hatte Text, ganz ehrlich. Er hat alle meine Szenen rausgekickt. Dann hat er noch die Scheiße über mich in der Kabbala erzählt!«) und Samouil Stoyanov als eifersüchtig-einsamer Schöpfer herausstechen.

Mit ihrem Netz aus klugen Pointen und schlichten Kalauern, das Yael Ronen über die Schöpfungsgeschichte wirft, fängt sie immer wieder berührende Momente und starke Gedanken ein. Wie in vergangenen Inszenierungen nutzt die 42-Jährige, die Hausregisseurin am Berliner Maxim Gorki Theater ist, tatsächliche oder behauptete Bezüge auf die Biografien ihrer Darsteller. Das erklärt den Hashtag im Titel der Produktion: Genesis versammelt eben auch viele persönliche Geschichten von Anfang und Ende, vom Ringen mit dem Glauben.

Schabbes »Wenn wir uns unseren Problemen nähern wollen, müssen wir uns Gott nähern«, heißt es gleich zu Beginn dieses bemerkenswerten Theaterabends. Und so kriegen sich die Darsteller erst einmal heftig in die Haare, als sie beginnen, über die Religionszugehörigkeit Gottes zu streiten. Der 1987 in Haifa geborene Schauspieler Jeff Wilbusch postuliert: »Er ist Jude!«, während sein bulgarischer Kollege Samouil Stoyanov dagegenhält: »Er ist Christ!«. Eine Lösung bietet Wiebke Puls, Tochter eines Pastors: »Gott ist nicht religiös. Er ist.«

Ja, dieser Disput und viele andere Szenen sind laut, schlagfertig und komisch inszeniert, doch Yael Ronen und ihre Mannschaft zeigen, dass sie auch behutsam können. Am Ende wird Wilbusch in einem leisen Solo einräumen: »Schon als kleines Kind konnte ich mir nicht vorstellen, dass Gott etwas dagegen hat, wenn ich an Schabbes male oder den Staub aus meiner Hose klopfe.« Heute sei sein Leben zwar »einfacher, bequemer« – doch gebe es in ihm »eine Sehnsucht, ein großes Loch«.

In ein solches verschwindet schließlich via Videoprojektion das Bild des Schöpfers, wie Michelangelo ihn in seinem Fresko Die Erschaffung Adams gemalt hat. Ihm folgt, vom selben Schicksal ereilt: eine Schöpferin, eine dunkelhäutige Frau, gezeichnet in gleicher Pose wie der bärtige weiße Mann von der Decke der Sixtinischen Kapelle. Es bleiben: die Menschen. Ratlos? Hoffnungsvoll? Allein. Einige wenige Buhs für die Regie; langer, heftiger Applaus.

Die nächsten Aufführungen finden am 5., 12. und 15. November statt.

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