Ich würde nicht gerne schreiben, wenn Goldy meine Texte nicht gerne hören oder lesen würde.» Als Paul Parin dies schrieb, im Vorwort zu einem Erzählungsband, war er ein international renommierter Schriftsteller und Psychoanalytiker – und bereits 60 Jahre mit seiner Frau Goldy zusammen.
Paul Parin, am 20. September 1916 in Slowenien geboren, vereinigt in seiner Biografie vieles und scheinbar Unvereinbares: Als Jude und Sohn eines privilegierten Großgrundbesitzers wächst er im multikulturellen Slowenien auf. Als Kleinkind wird er wegen eines angeborenen Hüftschadens – dies erschien seinerzeit als die probate Behandlungsmethode – für zwei Jahre von Kopf bis Fuß eingegipst, wodurch seine Beobachtungsgabe früh geweckt wird.
Vor allem jedoch hat er eine liebende Mutter, die ihren Paul nie als ein behindertes Kind wahrnimmt. Für sie ist er einfach ein Glückskind. Eine prägende Grunderfahrung, die ihm hilft, die ärgsten Situationen durchzustehen – und später immer wieder in die Welt, nach Afrika, aufzubrechen, zu ethnopsychoanalytischen Erkundungsreisen.
Paul Parin besucht keine Schule, sondern erhält Hausunterricht, was er als befreiend und inspirierend erlebt. Er baut sich eine eigene Bücherei auf, macht aber auch Ausflüge nach Slowenien. «Ich hatte schon früh einen Hunger nach Abenteuern», erinnerte sich der Psychoanalytiker an seine frühen Motive.
Sprachgewalt 1933, mit 17 Jahren, besucht er in Graz für ein Jahr doch ein Gymnasium, um einen offiziellen Schulabschluss zu erlangen. Für den Juden und jungen Intellektuellen Paul Parin ist dies eine herausfordernde Erfahrung: Es war eine «Nazischule», wie er es selbst ausdrückte. Drei seiner jüdischen Mitschüler werden totgeschlagen, «während ich, der letzte Nichtarier an dieser Schule, überlebte». Paul Parin hingegen vermag sich zu wehren – mittels seiner Sprachgewalt: Er macht seine nationalistischen Gegner lächerlich. Und kommt damit durch.
1937 geht der junge, marxistisch interessierte Medizinstudent von Graz nach Zagreb, «um hier abzuwarten, ob die ›braune Flut‹ nicht noch einmal zurückebben würde, bevor sie Österreich überschwemmte», schreibt Parin 1980. Ein Jahr später gehen die Parins in das «sichere» Zürich.
1944 brechen der 27-jährige Paul Parin und Goldy Parin-Matthéy mit einer kleinen Schweizer Ärztemission aus Protest gegen die «neutrale» Politik der Schweizer Regierung – die ein «J» in die Pässe der flüchtenden Juden stempelt – als Widerstandskämpfer zu Titos Partisanen auf. Ein halbes Jahrhundert später, 1991, schreibt Parin in seinem Buch Es ist Krieg und wir gehen hin seine Erinnerungen an seine Zeit als Partisan bei Tito nieder. In den Jahren, als das alte Jugoslawien zerfällt, als dort der nationalistische Wahn gewinnt, findet sein Werk eine erstaunliche Resonanz. «Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung auf eine Linie eine Fessel», schreibt er.
utopie Die Jahre in Jugoslawien, 1944/45, sind seine gelebte Utopie. Ohne seelische Kränkung vermögen sich die Parins 1946 von ihr zu lösen, als die anarchistische Utopie durch die sozialistische Bürokratie ersetzt wird. Für sie ist in Jugoslawien kein Platz mehr. In einer abenteuerlichen, mehrwöchigen Reise – an die er sich 40 Jahre später erzählend erinnern sollte – kommt er nach Zürich zurück, wo er seine psychoanalytische Ausbildung beginnt. Zürich ist seine «Heimat» – auch wenn er das kalte Zürich verabscheut, obwohl er im Utoquai bis zu seinem Tod wohnte.
Von 1954 bis 1971 unternehmen die Parins, gemeinsam mit ihrem Freund und Kollegen Fritz Morgenthaler, sechs selbst finanzierte Forschungsreisen nach Westafrika, um mithilfe der von ihnen entwickelten Ethnopsychoanalyse das Seelenleben westafrikanischer Völker zu untersuchen. 1963 erscheint ihre Studie Die Weißen denken zu viel, 1971 dann Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Die aufbegehrende 68er-Protestgeneration greift die markanten Buchtitel auf, der Titel Die Weißen denken zu viel prangt sogar auf der Schaufensterscheibe des Anderen Buchladens in Köln.
Wo immer möglich und nötig mischt sich Paul Parin in den 70er- und 80er-Jahren in den öffentlichen Diskurs ein und belebt diesen durch seinen unbestechlichen, analytisch geschärften Blick auf gesellschaftliche Gewaltverhältnisse sowie mittels seiner beeindruckenden Sprachkraft. «Das Politische ist immer auch persönlich», was für ihn gleichermaßen auch umgekehrt gilt. Das verdeutlichte Parin immer wieder – sehr zum Unwillen vieler seiner konservativeren Berufskollegen, die nach der schwierigen gesellschaftlichen Etablierung der Psychoanalyse gar zu gerne das kulturkritische Erbe Freuds loswerden wollen.
fortschritt Ganz im Sinne der aufklärerischen und kulturrevolutionären Tradition der Psychoanalyse insistiert Paul Parin: «Die Vergangenheit versinkt, und Geschichtslosigkeit droht sich einzustellen, wo immer es Herrschaft und Beherrschte gibt. Ohne eine Kultur, die ihre Kritik gegen die Machtverhältnisse richtet, ist kein Fortschritt möglich.»
Seine Position als kritischer Sozialist und «moralischer Anarchist» (Christa Wolf) bringt Parin mit den Worten André Bretons zum Ausdruck: «Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir gehören ihr nur in dem Maße an, als wir uns gegen sie auflehnen.»
1980 schließt der 74-Jährige seine psychoanalytische Praxis und beginnt zu schreiben – Lebenserinnerungen, durchtränkt mit literarischer Fantasie. Bereits seine erste Erzählung «Untrügliche Zeichen von Veränderung: Jahre in Slowenien» wird 1980 mit einem Literaturpreis ausgezeichnet. 1985 verarbeitet er in der Erzählungssammlung Zu viele Teufel im Land seinen langen, schmerzhaften Abschied von Afrika.
Es folgen Noch ein Leben (1990) und Es ist Krieg und wir gehen hin (1992). Ab 1993, als Goldy gebrechlich wird und schließlich 1997 stirbt, erscheinen seine Erzählungsbände Karakul, Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären und Der Traum von Ségou. 2003 erscheint dann sein verstörender Band Die Leidenschaft des Jägers.
Dass Paul Parin der Versuchung zum Freitod, nach dem Dahingehen Goldys, nicht nachgab, ist vielleicht seine größte seelische Leistung gewesen. Parin war sich durchaus bewusst, dass jeder Suizid Schuldgefühle bei den Freunden des Verstorbenen hinterlässt. Am 18. Mai 2009 stirbt Paul Parin, hochbetagt, erblindet, aber bis zum Ende ungebrochen vital, eines natürlichen Todes.
optimismus Als Grundmotiv für seine außergewöhnlich produktiven wissenschaftlichen, politischen und psychoanalytischen Aktivitäten hat Paul Parin seinen Forschungsdrang, seine Sehnsucht nach Abenteuern sowie seinen ungebrochenen Humor und Optimismus benannt. Eine späte Erinnerung Parins beginnt mit diesen Worten: «Ich bin im Allgemeinen ein ausgeglichener Mensch. Aber ich habe bei bestimmten Anlässen wahnsinnige Wutanfälle bekommen und bin auf die Leute losgegangen.»
Anlass hierfür war eine Konfrontation mit dem Antisemitismus. Einmal geht er mit Goldy in eine Wiener Bar: «Da kam ein Betrunkener rein, ein kräftiger, großgewachsener Mann, aber der Barmann, offensichtlich ein Jude, sagte ihm höflich, sie würden jetzt gleich schließen.» Der Gast begann, ihn grob antisemitisch zu beschimpfen. «Das war uns unangenehm. Wir bezahlten, zogen die Mäntel an und gingen hinaus.»
Plötzlich tauchte der Betrunkene wieder auf und fing erneut an, den im Eingang stehenden Barmann massiv zu beschimpfen. Paul Parin erzählt: «Von da an erinnere ich mich an nichts mehr. Als ich wieder zu mir kam, stand ich etwa hundert Meter weiter weg, und ich fragte Goldy, wie ich dahin gekommen sei. Sie sagte mir, ich sei wie ein wildes Tier auf diesen Riesenkerl losgegangen, der habe sich schlagartig umgedreht und die Flucht ergriffen, und ich rannte ihm nach. Ich sei erst wieder zu mir gekommen, als er außer Sichtweite war. Der Goldy hat das sehr gut gefallen.»