Der israelische Brigadegeneral Barak Hiram hielt kürzlich eine Rede über den Zionismus der großen Gesten. Es ging um Standhaftigkeit, um das ewige Volk, das seiner Vergangenheit und Zukunft verpflichtet ist. Und es ging um die Kultur, die in seinen Augen für den Angriff der Hamas am 7. Oktober verantwortlich ist.
Hiram sprach nicht über das Versagen der Armeeführung, zu der er gehört, er beschuldigte vielmehr die säkulare und liberale Kultur Israels: »Eine Gesellschaft, die danach strebt, leicht und lebendig zu sein, losgelöst von den Verpflichtungen ihrer Vergangenheit und von der Last ihrer Zukunft, gibt sich vor allem dem Augenblick der Gegenwart hin. Unsere Feinde erkannten dies und glaubten, nun sei die Gelegenheit, uns auszurotten.«
Vor allem knöpfte sich Hiram den Hightech-Bereich vor und die Menschen, die den finanziellen und persönlichen Erfolg über das Kollektiv stellen. Er nahm aber auch Bezug auf die Verantwortung der Armee und räumte ein, dass diese am 7. Oktober versagte.
Reaktionen ließen nicht auf sich warten, das Bashing wirkte. Die so Beschuldigten waren teilweise sprachlos, denn sie hatten in der Tat keine Sprache, wie man diesen großen Gesten begegnen sollte. Auch ich gehörte zu den Sprachlosen und wusste im Moment nicht, ob ich wirklich in meiner Naivität Schuld am 7. Oktober hatte, in der Illusion lebend, dass Israel ein Stück im Nahen Osten gestrandetes Europa wäre.
Ich lebe seit 1974 nicht mehr in Deutschland. Ich habe einen anderen jüdischen Weg eingeschlagen, den der jüdischen Selbstbestimmung, auch Zionismus genannt. Ich wollte kein Jude in der Diaspora, sondern ein souveräner jüdisch-israelischer Staatsbürger sein. Ich bin kein Sklave, sondern der Sohn von Sklaven, ich bin kein Überlebender eines Genozids, sondern der Sohn von Überlebenden. Ich spürte den Gegenwind meiner unmittelbaren Umgebung, die den Mord an den israelischen Athleten 1972 in München als antiimperialistischen Akt feierte und mir seit dieser Zeit die Lust sowohl auf jegliche Olympische Spiele als auch auf internationale Solidarität verdarb. Ich ließ die bekannte Welt hinter mir, um Freiheit zu atmen. Und die Stadt Tel Aviv, in der ich lebe, symbolisiert diese Freiheit und das Versprechen von Normalität mehr als jeder andere Ort in Israel.
Zwei Jahre nach meiner Ankunft in Israel befreite ein israelisches Kommando jüdische und israelische Geiseln aus einer entführten Air-France-Maschine. Ich war stolz und bewunderte die Befreier. 48 Jahre später wünsche ich sie mir für die immer noch gefangenen israelischen Geiseln in Gaza.
Hirams Zionismus der großen Gesten steht Theodor Herzls Utopie eines Zionismus der kleinen Gesten gegenüber. Der Wiener Journalist und Schriftsteller entwarf die Idee einige Jahrzehnte vor der jüdischen Katastrophe. In Altneuland stellte er 1902 seinen europäischen Traum, in dem Juden als Europäer außerhalb Europas leben können, vor: blühende Städte, Opernhäuser, bei deren Besuch weiße Handschuhe genauso dazugehörten wie das kultivierte Deutsch oder Französisch, das man dort sprach.
Es war ein wunderschönes Europa, ja ein besseres Europa ohne Antisemiten im Nahen Osten. Altneuland wurde ins Hebräische als Tel Aviv übersetzt – und zu Ehren Herzls einige Jahre später eine Stadt mit diesem Namen gegründet. Es ist ihre Kultur, die so entschieden von Barak Hiram als Auslöser des 7. Oktober beschuldigt wurde.
Der Zionismus der kleinen Gesten ist sprachlos, ja muss sprachlos sein. Es ist der Zionismus der lieb gewonnenen Gewohnheiten: das wöchentliche Treffen mit den Freunden, das gelegentliche Konzert in der Tel Aviver Philharmonie, wo deren Direktor Lahav Shani gemeinsam mit Beethoven vergessen macht, dass man im grausamen Nahen Osten lebt, der kalt gestellte Wein auf dem Balkon für den Fall, dass die Hisbollah trotzdem oder vielleicht sogar deswegen angreifen wird. Der kleine Hummusladen an der Ecke, bei dem sich jeden Morgen ältere Herren treffen und feiern, dass noch ein Tag vergangen ist. Und der Trost der Familie.
Das ist der Zionismus der kleinen Gesten. Holocaust-Überlebende, die in einem Strandcafé eine hebräische Zeitung lesen, die aus Nordafrika stammende Bankangestellte, die einem aus Odessa eingewanderten Juden einen Kredit ausstellt, auf Hebräisch. Ein arabischer Professor, der in einem hebräisch geschriebenen Zeitungsartikel gleiche Bürgerrechte einfordert, ein orthodoxer Rabbiner, der in einer Talkshow auf Hebräisch mehr Heiligkeit für den Schabbat einklagt, und junge Schwule und Lesben, die ihre Ehen anerkannt haben wollen.
Das gesellschaftliche Leben Israels ist nicht nur von Ideologie, Leiden und dem kommenden Messias bestimmt. Die meisten Menschen wollen ein kleines, nichtheroisches und ideologiefreies Leben führen, ihre Kinder in die Schule schicken, Urlaub machen, sich neue Dinge kaufen, sich auf einen Kaffee treffen und den nächsten Tag überleben.
Dies setzt eine Politik im Hier und Jetzt voraus. Aber ist das genug, den dunklen Kräften, die das Land wie ein Nebel umhüllen, Widerstand zu leisten? Wir wissen es nicht. Ohne den Zionismus der großen Gesten eines Barak Hiram können wir hier nicht leben, aber ohne unseren Zionismus der kleinen Gesten wollen wir hier nicht leben.
Der Autor ist emeritierter Professor für Soziologie in Tel Aviv. Er wurde 1954 in Mannheim geboren. Vor Kurzem erschien von ihm »Die Jüdische Wunde. Leben zwischen Anpassung und Autonomie« (Hanser Verlag).