»Am 12. Dezember 1909 wurde ich in Freienwalde an der Oder geboren«, schrieb Hans Keilson am Anfang seiner Erinnerungen, die vor Kurzem in »seinem« Verlag S. Fischer unter dem Titel Da steht mein Haus erschienen sind. Jetzt ist Keilson im Alter von 101 Jahren im niederländischen Hilversum gestorben. Sein erster Roman Das Leben geht weiter war 1933 als letztes Buch eines jüdischen Autors noch vom alten Samuel Fischer verlegt worden, aber praktisch schon vor dem Druck von den Nazis verboten worden. Keilson konnte rechtzeitig in die Niederlande emigrieren und überlebte dort mit gefälschten Papieren. Er wurde Arzt und Psychoanalytiker und behandelte vor allem jüdische Waisenkinder, der Eltern von den Nazis ermordet worden waren. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern hieß das wissenschaftliche Werk, das Zeugnis von dieser Arbeit ablegt und das Keilson selbst für seine wichtigste Arbeit hielt: »Das ist das Buch, das überleben wird. Was will ich mehr?«
In seinen Erinnerungen erzählt Keilson vom Ersten Weltkrieg, in dem sein Vater als Frontsoldat kämpfte und ausgezeichnet wurde. Wir lesen von den schwierigen Bedingungen, unter denen seine Eltern ihr kleines Textilgeschäft nordöstlich von Berlin führten, erfahren von frühen antisemitischen Diskriminierungen, denen Keilson noch während seiner Gymnasialzeit ausgesetzt war, von seinem Studium in Berlin, dem Leben im Untergrund in den Niederlanden. Die Memoiren sind in 22 Sequenzen gegliedert, verweigern sich strenger Chronologie und verbinden das Anekdotische mit dem Nachdenklichen, das ein über hundertjähriges Leben einem in Deutschland geborenen Juden abverlangte. So war es Keilson etwa gelungen, auch seine Eltern aus Deutschland in die Niederlande zu holen. Aber dort konnte er – selbst im Untergrund lebend – sie nicht vor der Deportation und der Ermordung schützen. »Als ich mit meiner Schwester nach dem Kriege diese Vorgänge besprach, erklärte sie, wenn sie in Holland gewesen wäre, hätte sie meine Eltern gerettet. Diesen Satz habe ich ihr nie verziehen.«
Hans Keilson war über 70 Jahre Niederländer, aber schrieb weiter in seiner Muttersprache Deutsch. Wer ihm – wie ich – vor einigen Jahren in seiner Brandenburger Geburtsstadt begegnen durfte, erlebte einen alten Herrn mit jungem Herzen und klarem Verstand. Diese Erfahrung werden posthum auch die vielen Leser machen, die Keilsons Erinnerungen zu wünschen sind.
Hans Keilson: »Da steht mein Haus. Erinnerungen«. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, 143 S., 16,95 €