Nachruf

Zeuge seines Jahrhunderts

Der Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson ist 101-jährig gestorben

von Harald Loch  01.06.2011 10:28 Uhr

Hans Keilson, 1909–2011 Foto: dpa

Der Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson ist 101-jährig gestorben

von Harald Loch  01.06.2011 10:28 Uhr

»Am 12. Dezember 1909 wurde ich in Freienwalde an der Oder geboren«, schrieb Hans Keilson am Anfang seiner Erinnerungen, die vor Kurzem in »seinem« Verlag S. Fischer unter dem Titel Da steht mein Haus erschienen sind. Jetzt ist Keilson im Alter von 101 Jahren im niederländischen Hilversum gestorben. Sein erster Roman Das Leben geht weiter war 1933 als letztes Buch eines jüdischen Autors noch vom alten Samuel Fischer verlegt worden, aber praktisch schon vor dem Druck von den Nazis verboten worden. Keilson konnte rechtzeitig in die Niederlande emigrieren und überlebte dort mit gefälschten Papieren. Er wurde Arzt und Psychoanalytiker und behandelte vor allem jüdische Waisenkinder, der Eltern von den Nazis ermordet worden waren. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern hieß das wissenschaftliche Werk, das Zeugnis von dieser Arbeit ablegt und das Keilson selbst für seine wichtigste Arbeit hielt: »Das ist das Buch, das überleben wird. Was will ich mehr?«

In seinen Erinnerungen erzählt Keilson vom Ersten Weltkrieg, in dem sein Vater als Frontsoldat kämpfte und ausgezeichnet wurde. Wir lesen von den schwierigen Bedingungen, unter denen seine Eltern ihr kleines Textilgeschäft nordöstlich von Berlin führten, erfahren von frühen antisemitischen Diskriminierungen, denen Keilson noch während seiner Gymnasialzeit ausgesetzt war, von seinem Studium in Berlin, dem Leben im Untergrund in den Niederlanden. Die Memoiren sind in 22 Sequenzen gegliedert, verweigern sich strenger Chronologie und verbinden das Anekdotische mit dem Nachdenklichen, das ein über hundertjähriges Leben einem in Deutschland geborenen Juden abverlangte. So war es Keilson etwa gelungen, auch seine Eltern aus Deutschland in die Niederlande zu holen. Aber dort konnte er – selbst im Untergrund lebend – sie nicht vor der Deportation und der Ermordung schützen. »Als ich mit meiner Schwester nach dem Kriege diese Vorgänge besprach, erklärte sie, wenn sie in Holland gewesen wäre, hätte sie meine Eltern gerettet. Diesen Satz habe ich ihr nie verziehen.«

Hans Keilson war über 70 Jahre Niederländer, aber schrieb weiter in seiner Muttersprache Deutsch. Wer ihm – wie ich – vor einigen Jahren in seiner Brandenburger Geburtsstadt begegnen durfte, erlebte einen alten Herrn mit jungem Herzen und klarem Verstand. Diese Erfahrung werden posthum auch die vielen Leser machen, die Keilsons Erinnerungen zu wünschen sind.

Hans Keilson: »Da steht mein Haus. Erinnerungen«. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, 143 S., 16,95 €

Meinung

Eine Replik von Eva Menasse auf Lorenz S. Beckhardts Text »Der PEN Berlin und die Feinde Israels«

von Eva Menasse  21.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  19.12.2024

TV-Tipp

»Oliver Twist«: Herausragende Dickens-Verfilmung von Roman Polanski

Sittengemälde als düstere Bestandsaufnahme über die geschilderte Zeitperiode hinaus

von Jan Lehr  19.12.2024

Literatur

Gefeierter Romancier und politischer Autor: 150 Jahre Thomas Mann

Seine Romane prägten eine Epoche und werden noch heute weltweit gelesen. Zugleich war Thomas Mann auch ein politischer Autor, woran im Jubiläumsjahr 2025 zahlreiche Publikationen erinnern

von Klaus Blume  19.12.2024

Glosse

Kniefall 2.0

Ist Markus Söder jetzt alles Wurst oder erfüllt er nur die Erwartungen der jüdischen Gemeinschaft?

von Michael Thaidigsmann  19.12.2024

Aufgegabelt

Einstein-Lachs-Tatar

Rezept der Woche

 19.12.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der Jüdischen Welt

 19.12.2024

Sehen!

Sigmund Freud und die Religion

Ein fiktiver Disput über die letzten Dinge: Matt Brown verfilmt das Buch von Armand Nicholi mit Anthony Hopkins als Sigmund Freud und Matthew Goode als C. S. Lewis

von Manfred Riepe  19.12.2024