Mit Charlie Chaplin in Hollywood Filmszenen proben, als Soldat des Ersten Weltkriegs fast in den Flüssen des Balkans ertrinken, vor neuen Kriegen auf andere Kontinente flüchten, in den Caféhäusern dieser Welt vom großen Abenteuer schwadronieren, ein Mythos sein – das ist das Bild Egon Erwin Kischs, das ihm selbst am besten gefiel. Schlichtweg, weil er es mit viel Mühe erfunden hatte.
Ähnlich wie der Amerikaner Ernest Hemingway inszenierte sich Kisch als eine Naturgewalt des Schreibens, als »rasender Reporter«, der Maßstäbe setzen wollte. Bis heute gilt Kisch als einer der historisch berühmtesten Vertreter des modernen Journalismus in seiner Entstehungszeit.
tuchmacherfamilie Egon Erwin Kisch, 1885 in Prag geboren als der zweite von fünf Söhnen einer wohlhabenden jüdischen Tuchmacherfamilie, war vieles in seinem Leben: Autor, Soldat, Matrose, Tattoofan und anpassungsfähiger Kommunist. Wenn es ihm opportun erschien, ließ er die Sowjetunion, die er in den 1920er-Jahren bereist hatte, im milden Licht der Revolutionsbegeisterung erscheinen, Antisemitismus und anderes Unrecht verschweigend. Hier und da schrieb Kisch auch einmal kritische Reportagen über die Sowjetunion.
Spätestens nach der Rückkehr 1946 aus dem mexikanischen Exil in sein geliebtes Prag entschied sich der von seinen Freunden liebevoll »Egonek« gerufene Autor jedoch dafür, den tschechischen Kommunisten sowie den Grausamkeiten Stalins keinen nennenswerten Widerspruch entgegenzusetzen.
Kisch war der große Erzähler, der Antifaschist und gewitzte Menschenfreund, der scheinbar nicht nur in Windeseile recherchierte, sondern auch blitzschnell Bücher schrieb.
Er war der große Erzähler, der Antifaschist und gewitzte Menschenfreund, der scheinbar nicht nur in Windeseile recherchierte, sondern auch blitzschnell Bücher schrieb. In Wahrheit war es wohl seine Ehefrau Gisela »Gisl« Lyner, die seine Manuskripte organisierte und in eine druckbare Fassung brachte.
Widersprüche Eine neue Biografie über Egon Erwin Kisch beleuchtet auf faszinierende Weise diese Widersprüche im Leben des Prager Autors. Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters ist dieser Tage im Berlin Verlag erschienen. Dabei gelingt dem Biografen Christian Buckard etwas Außerordentliches: Das fast 450 Seiten dicke Buch ist nicht nur eine gelungene Darstellung einer Lebensgeschichte, sondern zugleich auch eine Mediengeschichte, eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Schreiben, Lügen, Krieg und Gewalt, und eine Tour de Force, in der wir als Leser Kisch zwischen ganz unterschiedlichen Geisteszonen jüdischen Lebens beobachten.
Wir sehen Kisch als sensiblen Freund von Franz Kafka, mit dem er durch Berliner Parks spazieren geht. Als Kommunisten, der scheinbar den nationalen Gedanken des Zionismus ablehnt, dann aber in seiner legendären Textsammlung Klassischer Journalismus (1923) einen Text Theodor Herzls aufnimmt. Sein Leben lang interessierte Kisch sich für das Judentum. Buckard schreibt, es sei Kischs Angewohnheit gewesen, »in jedem Land, das er besuchte, ›Judenquartiere‹ aufzusuchen und davon einige Momentaufnahmen zu fabrizieren«.
Dabei nimmt er je nach Land und politischer Wetterlage Rücksicht, niemandem wehzutun. »Kisch war kein Fanatiker. Die wechselnden Parteilinien kümmerten ihn wenig, er verließ sich auf seinen Verstand und seine unwandelbar rebellische Überzeugung«, wie es sein Weggefährte Axel Eggebrecht formulierte. Christian Buckards Biografie lesend, könnte man auch zu einem anderen Schluss kommen: Kisch war ein Opportunist, der es zudem mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm. Sowjetischen Antisemitismus bemerkte er wohl, hielt sich aber mit Kritik zurück. Zionistische Begeisterung wie sie bei Max Brod zu spüren war, blieb bei Kisch höchstens eine Privatangelegenheit.
gesellschaftsliebling Der Prager Gesellschaftsliebling »Egonek« sah sich als Weltmann. Er war der Reporter mit dem Nimbus des Revolutionärs, einem allgemeinen Humanismus folgend, der sich rhetorisch wie ein Teig nach vielen Seiten auswalzen ließ. Wichtig waren ihm die Pointen, die außergewöhnlichen Storys, der Glanz eines Textes.
Und so zeigt die neue Biografie anhand vieler Beispiele, dass Kisch ein früher Claas Relotius war. Ein Journalist, der häufig Fiktion und Wahrheit problemlos ineinander fließen ließ. Zu Kischs Maximen gehörte beim Schreiben das Vertrauen auf »logische Phantasie«. Dass gerade Egon Erwin Kisch bis heute als Patron der guten Reportage gilt, dürfte spätestens nach dieser Biografie fragwürdig sein.
Das Buch zeigt Egon Erwin Kisch als auf hohem Niveau Gescheiterten, der spürt, dass er ein Außenseiter ist, aber in der Mitte der Welt stehen will.
Von der Beschreibung seiner ersten Tätowierung in einem Soldatenknast bis hin zu seinen Unterwelt-Reportagen, seinen Reisen durch China, die Sowjetunion, die USA und seinen Porträts besonderer Menschen zieht sich die Freude an der Übertreibung, der Faktenverdrehung. Nicht zu vergessen, dass sich Kisch neben der Journalistenrolle als fantasiebegabter Literat verstand. Immerhin hatte er gemeinsam mit Heinrich Mann im Juni 1935 am I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris teilgenommen und war als Vertreter der deutschen Delegierten in den Kongressvorstand gewählt worden. Auch in der DDR wurde er gern als sozialistischer Schriftsteller in höchsten Ehren gehalten.
Rassismus Kisch, so zeigt die Biografie deutlich auf, war zudem rassistischen und verächtlichen Perspektiven auf Menschen nicht abgeneigt. Besonders schwarze Menschen wurden in vielen seiner Texte aufs Übelste lächerlich gemacht oder karikiert. »Schon damals glaubten sich viele Linke gegenüber Rassismus und Judenhass immun«, kommentiert Buckard lakonisch. In der Biografie wird Kischs Rassismus ausführlich belegt.
Christian Buckards Buch ist weit mehr als eine Biografie geworden. Es ist eine Abrechnung mit dem Journalismus als Spielplatz für männliche Helden. Zu den schonungslosesten, ehrlichsten Texten Kischs gehören seine Kriegsaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Hier sieht man ein Trauma der Hilflosigkeit, vor dessen Hintergrund man die larmoyante Abgebrühtheit des späten Kisch (und häufig auch des zeitgenössischen Journalismus) als Farce entlarven kann.
»Den ganzen Morgen«, schrieb der junge Kisch aus einem Kriegslager, »weine ich grundlos und unvermittelt, nachmittags lache ich, bin kindisch geworden.« Der Krieg ist kein Abenteuer, das Schreiben ist kein Abenteuer. In der komplexen Medienmoderne, in welcher Kisch seine Karriere macht, ist die Idee einer authentischen Einzelstimme von Anfang an ein widersprüchlicher Mythos.
medienkosmos Buckard schreibt aber keine platte Dekonstruktion des großen Journalisten Kisch, sondern folgt als studierter Judaist an vielen Stellen den jüdischen Spuren innerhalb des vielfältigen Medienkosmos, in dem sich Kisch bewegte. Er zeigt Kisch in der Tradition eines Erzählens, das heimatlos geworden ist und sich verzweifelt neue mediale Gefäße sucht.
Christian Buckards Buch ist weit mehr als eine Biografie geworden. Es ist eine Abrechnung mit dem Journalismus als Spielplatz für männliche Helden.
Das ist der versöhnliche Ton Buckards in seiner Biografie: Sie zeigt Egon Erwin Kisch als auf hohem Niveau Gescheiterten, der spürt, dass er ein Außenseiter ist, aber in der Mitte der Welt stehen will. »Vielleicht liegt die Tragik in Kischs Leben darin, dass er eigentlich immer nur ein ›orientalischer Geschichtenerzähler‹ aus Prag im Gewand eines ›marxistischen Wanderpredigers‹ war«, schreibt sein Biograf.
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil, im März 1946, wenige Jahre vor seinem Tod, streift Kisch durch Prag, die Stadt seiner Kindheit, und zählt die Toten, meldet sich bei der jüdischen Gemeinde als einer für ihn plötzlich wichtigen Adresse. Seiner Freundin Ruth Klinger sagt Kisch: »Früher habe ich mich um diesen Prager Sektor wenig gekümmert. Jetzt bin ich innerlich in viel stärkerem Maße an jüdischen Problemen interessiert als früher. Mein nächstes Buch heißt Über die Ghetti der Welt.«
Christian Buckard: »Egon Erwin Kisch. Die Weltgeschichte des rasenden Reporters«. Berlin Verlag, Berlin 2023, 445 S., 28 €