Der Beschluss des Präsidiums fiel einstimmig: Das Stimmrecht der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in den Gremien des Zentralrats der Juden in Deutschland wird für zwölf Monate ausgesetzt. Dem vorangegangen war eine entsprechende Empfehlung des in Frankfurt ansässigen unabhängigen Gerichts beim Zentralrat und ein bislang noch laufender, erbitterter Rechtsstreit zwischen dem Dachverband und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Ausgangspunkt für die Sanktion sind Gerichtsbeschlüsse in zwei Verfahren, die die Jüdische Gemeinde zu Berlin nicht erfüllt hat. Mitglieder der Berliner Gemeinde hatten gegen die neue Wahlordnung der Berliner geklagt und jeweils in Eilverfahren Recht bekommen. Doch die Gemeindeführung erkannte die Zuständigkeit des Gerichts mit Verweis auf ihren eigenen Schiedsausschuss nicht an und ließ die Wahl zur Repräsentantenversammlung trotzdem durchführen.
Nach übereinstimmender Auffassung von zwei damit befassten Kammern des Gerichts beim Zentralrat war das ein eindeutiger Regelverstoß, der nach dem Willen der Richter Konsequenzen haben sollte.
Die Berliner Vertreterin Milena Rosenzweig-Winter konnte nicht an der Abstimmung teilnehmen, weil sie laut Geschäftsordnung befangen war.
Dem ist das zuständige Präsidium des Zentralrats nun gefolgt – einstimmig. Die Berliner Vertreterin in dem neunköpfigen Führungsgremium, Milena Rosenzweig-Winter, konnte nicht an der Abstimmung teilnehmen, weil sie laut Geschäftsordnung befangen war. Für den Beschluss wäre aber auch eine knappere Mehrheit ausreichend gewesen.
Rosenzweig-Winter, die Geschäftsführerin der Gemeinde und Rechtsanwältin ist, hatte aber bereits im Vorfeld ihren Unmut über das Verfahren kundgetan. In einem am Freitag vergangener Woche veröffentlichten Offenen Brief an die übrigen Präsidiumsmitglieder erhob sie schwere Vorwürfe und stellte die Unabhängigkeit der Richter vom Zentralrat in Frage. Der vorübergehende Entzug des Stimmrechts sei eine angeblich »rein politische Repressalie gegen die Berliner Gemeinde«.
Weitergehende Schritte möglich
Die Aussetzung des Stimmrechts betrifft nur die Organe des Zentralrats und bedeutet auch nicht, dass Berliner Vertreter nicht mehr an Sitzungen von Ratsversammlung, Direktorium und Präsidium teilnehmen dürfen. Allerdings könnte das Gericht bei anhaltender Weigerung weitere Sanktionen empfehlen, darunter eine Aussetzung der Mitgliedsrechte.
Das unabhängige Gericht könnte bei anhaltender Weigerung weitere Sanktionen gegen die Berliner Gemeinde empfehlen.
Die von Berliner Gemeindemitgliedern, darunter die ehemalige Vorsitzende Lala Süsskind, angefochtene Wahlordnung schloss bestimmte Personengruppen vom passiven Wahlrecht aus. Betroffen waren unter anderem Personen über 70 (außer, sie hatten bereits ein Mandat in der Ratsversammlung inne) sowie Mitarbeiter bestimmter jüdischer Organisationen.
Die Richter sahen nach summarischer Prüfung einen möglichen Verstoß gegen das Willkürverbot im Grundgesetz für hinreichend glaubhaft an und untersagten eine Wahl nach der neuen Wahlordnung. Ein abschließendes Urteil haben sie bislang nicht fällen können, weil die Berliner Gemeinde das Gericht nicht anerkennen will und sich bislang dem Verfahren verweigert hat.
Bei der Wahl im September erzielte das Wahlbündnis des seit 2012 amtierenden Vorsitzenden Gideon Joffe eine große Mehrheit - auch, weil viele von Joffes Gegnern den Urnengang boykottiert hatten. Die Oppositionsliste Tikkun bezeichnete die Wahl mit Verweis auf das Gericht beim Zentralrat als illegal.
Tikkun: Joffe und seine Unterstützer haben in den vergangenen Jahren die demokratischen Strukturen und das Wahlsystem der Gemeinde systematisch ausgehöhlt.
Tikkun-Vertreter wiesen in einer Reaktion auf den Beschluss des Präsidiums heute Mittag darauf hin, dass es sich nicht um einen Konflikt zwischen dem Zentralrat und der jüdischen Gemeinde in Berlin handele, sondern vielmehr Gideon Joffe und seine Unterstützer in den vergangenen Jahren die demokratischen Strukturen und das Wahlsystem der Gemeinde systematisch ausgehöhlt hätten. »Der Entzug der Stimmrechte ist eine klare Antwort auf dieses für die jüdische Gemeinschaft in höchstem Maße schädliche Verhalten«, so Tikkun Berlin.
Der Berliner Anwalt Natan Gelbart, der die Kläger vor Gericht vertritt, begrüßte die Entscheidung des Präsidiums ebenfalls. »Die Gerichtsbarkeit beim Zentralrat der Juden ist wichtig und für alle Mitglieder verbindlich. Es gibt kein Recht darauf, rechtskräftige Urteile lediglich aufgrund ihres unliebsamen Inhaltes zu ignorieren. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat sich umfassend zur Zuständigkeit des Gerichts geäußert und das Gericht hat hierzu in der Urteilsbegründung sehr ausführlich ausgeführt. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin legte kein Rechtsmittel ein«, sagte Gelbart dieser Zeitung.
Die verhängte Sanktion sei zur »Wahrung des Rechtsfriedens und des Respekts vor dem Gericht wichtig und unabdingbar, fügte er hinzu.
»Es ist der richtige Entschluss. Hoffentlich wird unsere Berliner Gemeinde nun wieder demokratischer.«
Lala SÜsskind
Lala Süsskind kommentierte die Stimmrechtsaussetzung so: »Es ist der richtige Entschluss. Hoffentlich wird unsere Berliner Gemeinde nun wieder demokratischer.« Das Votum sei ein »Riesendämpfer« für den Gemeindechef Joffe.
Süsskind hatte im vergangenen Sommer fristgerecht ihre Kandidatur bei der Jüdischen Gemeinde eingereicht, um für einen Sitz in der Repräsentantenversammlung kandidieren zu können. Aufgrund ihres Alters wurde die 77-Jährige aber nicht zur Wahl zugelassen. Lala Süsskind prüft nun, auch eine Klage beim Landgericht einzureichen.
Boris Rosenthal vom Bündnis Tikkun Berlin, der ebenfalls nicht zur Wahl zugelassen worden war, sagte, er freue sich sehr über den Entscheid. »Ich habe es nicht erwartet. Nun motiviert er mich, wieder aktiv zu werden.« Er fordert nun Joffes Rücktritt.
Boris Rosenthal vom Bündnis Tikkun Berlin fordert den Rücktritt von Gemeindechef Joffe.
Mario Marcus war verreist und hatte es so nicht mehr rechtzeitig geschafft, die Unterlagen einzureichen, die für eine Kandidatur vorgeschrieben waren. Ihm standen nur vier Tage zur Verfügung. Nur über Mundpropaganda habe er überhaupt von dem Abgabedatum erfahren, wie er sagt. »Es gibt mir eine gewisse Genugtuung, dass der Zentralrat nun Sanktionen gegen die Jüdische Gemeinde ausgesprochen hat.«
Marcus hat den Schiedsausschuss der Jüdischen Gemeinde zu Berlin angerufen. Bei der konstituierenden Sitzung der Repräsentantenversammlung hätte es nur 16 statt der 17 Kandidaten gegeben, da ein Kandidat im Herbst verstorben war. Marcus kritisiert, dass niemand nachgerückt sei in das Gremium. Auf dem nächsten Listenplatz steht Tamar Vingron vom Bündnis Tikkun Berlin.
Auch Emanuel Adiniaev von der Initiative LeʼKulam zeigte sich über den Beschluss zufrieden. »Gideon Joffe hatte in der Vergangenheit bereits erwähnt, diese Konsequenzen in Kauf zu nehmen und dürfte jetzt über die Handlung des Präsidiums keine Haltung der Verwirrung, Enttäuschung oder gar Verschwörung an den Tag legen. Gleichzeitig in jedem Gremium des Zentralrats vertreten sein zu wollen, die überdachende Funktion aber abzusprechen, das unabhängige Gericht nicht anzuerkennen, und vieles mehr, entzieht sich leider jeder Logik«, so Adiniaev.
Die Ratsversammlung des Zentralrats, in der aktuell acht Berliner Delegierte sitzen und die mindestens einmal im Jahr tagt, wählt alle vier Jahre aus ihrer Mitte drei Mitglieder in das Präsidium des Zentralrats. Weitere sechs Präsidiumsmitglieder werden vom Direktorium gewählt, das sich ebenfalls aus Vertretern der Landes- und sonstigen Mitgliedsverbände des Zentralrats zusammensetzt.
Das Direktorium tagt mehrmals im Jahr, überwacht die Tätigkeit des Präsidiums und wählt auch den Geschäftsführer des Zentralrats. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin entsendet zwei Vertreter ins Direktorium.
Wieder Berliner Vertreterin im Präsidium
Mit Milena Rosenzweig-Winter sitzt seit einer Woche wieder ein Berliner Gemeindemitglied auch im Präsidium des Zentralrats. Die Geschäftsführerin der Berliner Gemeinde gehörte dem Leitungsgremium bereits von 2015 bis 2022 an und rückte für den verstorbenen Harry Schnabel aus Frankfurt nach. Bei der Nachwahl setzte sie sich knapp gegen Oded Horowitz aus Düsseldorf durch.
Gideon Joffe interpretierte die Wahl Medienberichten zufolge als Vertrauensbeweis für die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Es zeige, so Joffe, »dass eine große Mehrheit der verantwortlichen Delegierten in den Führungsgremien des Zentralrats den eingeschlagenen Kurs und die wertvolle Arbeit der Berliner Gemeinde schätzt und unterstützt.«
Ob dem tatsächlich so ist, ist allerdings nicht erst nach dem heutigen Votum mehr als zweifelhaft. Die Berliner Wahlordnung ist im Übrigen nicht der einzige Zankapfel zwischen dem Leo-Baeck-Haus (dem Sitz des Zentralrats in Berlin) und der örtlichen Gemeinde. Es gibt unter anderem auch Streit über die Neuausrichtung der Rabbinerausbildung.
Laut Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) hatte die Berliner jüdische Gemeinde Ende 2022 knapp 8300 Mitglieder und war damit die zweitgrößte des Landes nach der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Mehr als die Hälfte der Gemeindemitglieder sind über 60 Jahre alt.
An dem ausschließlich per Briefwahl durchgeführten Urnengang beteiligte sich Anfang September nur rund ein Fünftel der Wahlberechtigten. (Mitarbeit: Christine Schmitt)