Maria Stepanova

Zarter Ton des Trostes

»Der Absprung« besticht durch sprachliche Brillanz

von Maria Ossowski  16.10.2024 12:34 Uhr

»Der Absprung« besticht durch sprachliche Brillanz

von Maria Ossowski  16.10.2024 12:34 Uhr

Lieblingsschriftstellerin, das klingt ich-bezogen und unakademisch. Egal. Nochmal mit Ausrufezeichen: Lieblingsschriftstellerin! Trotz vieler Konkurrentinnen bleibt Stepanova verlässlich unter den Top Ten (Literaturranking: Wie unseriös, denn in der Kunst überholt man nicht, und Wertungen dieser Art verbieten sich. Egal.)

Die Moskauerin aus jüdischer Familie mit momentanem Wohnsitz in Berlin hat sich wieder einmal den ersten Platz im persönlichen Literaturolymp gesichert, dank ihres neuen Romans Der Absprung. Maria Stepanovas Erzählkunst im Stile eines Vladimir Nabokov, ihre trockene Selbstironie à la Heinrich Heine und ihre Genauigkeit in der Beobachtung, die sie von Joseph Roth gelernt haben mag, sowie ihre unsentimentale Formulierungskunst mit hochkomplexen Sätzen treffen mitten in die Seele eines Sprachmenschen.

Denn einerseits geht es um die Sprache als Echoraum des dichterischen Ichs, andererseits um Sprache als bellender Missbrauch des Täters, des bösen Biestes aus ihrem Land. »Auch andere Sprachen hatten Blutergüsse und Narben, schartige Metallstücke unter der Haut, Spuren dessen, wie ihre Vorbesitzer sie behandelt hatten.« Die zunächst autofiktionale Geschichte spielt im Sommer 2023 und entschwebt dann in skurrile Traumwelten.

Höchste jüdische Prosakunst verbindet sich hier mit den aktuellen Zeitläuften.

M., eine Schriftstellerin aus genau jenem Land, in dem ein gefräßiges Untier sich Menschen und Länder einverleibt, erlebt den monströsesten dieser Akte am 24. Februar 2022 im Exil. Sie vermeidet den Namen des überfallenen Landes, erwähnt nie den des Biestes, dessen Sprache sie spricht und liebt, in dessen Sprache sie schreibt und von dem sie nicht sicher sein kann, ob er sich die Poetin nicht ebenfalls schon längst einverleibt hat.

Wegen der Sprache, der Geschichte, all dessen, was eine Stepanova und ihre großartige Übersetzerin Olga Radetzkaja so abgegriffen nicht formulieren würden, nämlich Heimatverbundenheit. Nach dem Überfall kann M. zunächst nichts schreiben, nur telefonieren und sich entsetzen ob des Untiers neuestem Schrecken. Dann reist sie zu einer Lesung.

Der Zug fällt aus, das Mobilfunkgerät ist leer, das Ladekabel verschwunden, sie nutzt einen anderen Zug, entfernt sich aus den Notwendigkeiten des Alltäglichen, landet im Zirkus, um sich von Zauberern zersägen zu lassen, und scheint mit dessen Direktor Peter Cohn einen blinden Seher vor sich zu haben: »In seinen schwarzen Brillengläsern schaukelten zwei große Glühbirnen. Du bist eine von und, Liebes, eine Jüdin, ja? Und M., die sich seit Monaten immer nur als Russin bezeichnet hatte, als russische Schriftstellerin, als russischsprachige Person, wiederholte beinahe verwundert: Ja.«

Höchste jüdische Prosakunst verbindet sich hier mit den aktuellen Zeitläuften und birgt in der poetischen Kraft der Stepanova einen zarten Ton des Trostes.

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