Als Jude fällt mir unweigerlich ein großer politischer Unterschied zwischen Amerika und Europa auf. Europäische Länder pflegen im Allgemeinen eher für die Palästinenser zu sein als für Israel. Amerika ist hingegen allzu oft die einsame Stimme in internationalen Foren, die dem jüdischen Staat immer noch die Stange hält, und ich bin höchst neugierig, ob auch das amerikanische Volk insgesamt zu Israel steht.
Um das herauszufinden, besuche ich den einen Mann in New York, der es mit größter Wahrscheinlichkeit wissen müsste. Abe Foxman, den Vorsitzenden der Anti-Defamation League (ADL), kenne ich zufälligerweise persönlich. Ist Amerika antisemitisch? Abe zufolge, nein. »Während in Europa der Antisemitismus zugenommen hat«, berichtet er mir, »ist er hier zurückgegangen.«
Abe sollte es wissen. Seine Organisation, die ADL, gibt regelmäßig beträchtliche Summen für Umfragen aus, die das Ausmaß an Antisemitismus weltweit ermitteln sollen. »Derzeit«, sagt Abe mir, »ist Amerika nicht dagegen gefeit, aber die Verbreitung antisemitischer Einstellungen liegt bei zehn, zwölf Prozent.«
Hemmungen Schön. Aber das heißt nicht, dass sich die amerikanischen Juden in diesem Land sicher fühlen. Ich frage ihn: Werde ich auf meiner Reise denselben geringen Prozentsatz an Antisemitismus in diesem Land vorfinden wie die Erhebungen seiner Organisation? Nein, antwortet er. »Du wirst viel häufiger mit antisemitischen Einstellungen konfrontiert werden. Bestimmt doppelt so häufig. Warum? Weil du ihnen in deinem unnachahmlichen Stil ihre Hemmungen nehmen wirst. Sie werden dir ihre innersten Gefühle offenbaren, also ihre Vorurteile. Die Amerikaner haben Vorurteile, nur sind sie nicht so dumm, sie zu zeigen oder entsprechend zu handeln.«
Ich freue mich über Abes Komplimente. Zugleich bin ich überrascht, aus seinem Mund zu hören, wie unzuverlässig die Untersuchungen seiner Organisation sind. Ich verabschiede mich von ihm, es ist Zeit, dass ich New York verlasse und Amerika aufsuche, das mir noch unbekannte Amerika. (...)
Was habe ich in D.C. verloren? Nun, nachdem ich auf dieser Reise öfter mal von »Juden« höre, möchte ich etwas genauer erfahren, wie die Amerikaner über die Juden denken. Vor einigen Monaten wurde ich von einem Mitglied einer Gruppierung namens CUFI auf ihre nächste Jahreskonferenz eingeladen. Dieses »Gipfeltreffen«, wie sie es zu nennen belieben, findet heute in D.C. statt. Die Organisation CUFI, Christians United for Israel (Vereinte Christen für Israel), wird von dem bekannten amerikanischen Pfarrer John Hagee sowie einer Reihe von Juden geleitet.
Ja doch. Zwei Juden stehen an der Spitze von CUFI und schmeißen in Wirklichkeit den Laden, da aber niemand gerne darüber spricht, tue ich es auch nicht. Viel mehr weiß ich nicht über diese Gruppe. Ich habe allerdings irgendwo gelesen, dass es sich um eine einflussreiche Lobbygruppe handeln soll, worüber ich ebenfalls gerne etwas mehr erführe. Manche Leute halten die CUFI-Mitglieder schlicht für einen Haufen Verrückter, die auf den Straßen der Hauptstadt Schofar blasen, und meinen, ich sollte besser keine Zeit mit ihnen verschwenden. Ob verrückt oder nicht, ich will sie sehen.
Palästinenserflaggen Auf der CUFI-Tagung heißt uns Diana Hagee, Pfarrer Johns Frau, mit den Worten willkommen, dass wir insgesamt eindrucksvolle 4000 Teilnehmer sind. Wir gucken uns alle gegenseitig an und sind beeindruckt, dass so viele von uns den Weg hierher gefunden haben. Die diesjährige Konferenz, erfahre ich, ist etwas Besonderes. Die CUFI-Führung will in diesem Jahr ein bestimmtes Ziel erreichen. Nämlich ein Abkommen zwischen dem Iran und den Weltmächten verhindern, vor allem den Vereinigten Staaten und Europa, mit dem die Sanktionen gegen den Iran aufgehoben würden.
CUFI, die nach eigenen Angaben über zwei Millionen Mitglieder verfügt, ist hier in D.C., um die mit einer solchen großen Mitgliederzahl verbundene Stärke dafür einzusetzen, dass dieses Abkommen niemals zustande kommt. Wird es ihnen gelingen? Ich habe da meine Zweifel, aber ich habe in meinem Leben auch schon mal falsch gelegen. Wenn ich mir die hier versammelten Leute angucke, dann ist meiner Schätzung nach mindestens ein Drittel von ihnen jüdisch. Das ist nicht so schwer herauszubekommen. Wenn auf der Bühne die Worte »heiliger Geist« fallen, klatscht weniger als die Hälfte der Anwesenden. Wenn etwas wie »unterstützt Israel« gesagt wird, klatschen fast alle. Überraschenderweise passiert auf dieser Konferenz nichts Besonderes. Einige parlamentarische Hinterbänkler lassen sich blicken, haben aber nichts Besonderes mitzuteilen. Es werden alle möglichen Reden gehalten, und die Leute netzwerken – und das war’s auch schon.
Am frühen Abend, gegen fünf, erscheinen ein paar Demonstranten vor dem Kongresszentrum. 20 sind es vielleicht, Weiße mit großen Palästinenserflaggen und Schildern, auf denen unter anderem »Beendet die Besatzung« steht. Die Demonstranten gehören der Gruppe Jewish Voice for Peace an, einer weit links stehenden jüdischen Organisation. Niemand schenkt ihnen große Aufmerksamkeit, was diesen US-Juden gar nicht gefällt, weshalb sie sich darauf verlegen, die Menschen anzuschreien, die das Gebäude betreten oder verlassen.
Ich stehe draußen, beobachte das Geschehen und schreibe es auf meinem iPad mit. Jonathan, einer der Demonstranten, sieht mich schreiben und hält mich daraufhin für einen der Journalisten. Er spricht mich an, aber ich antworte ihm nicht. Er versucht es erneut, ich reagiere immer noch nicht. Er versucht es noch einmal, mit demselben Ergebnis. Er wird wütend und schimpft mich einen »hässlichen Mann mit Wurstfingern«. Und für den Fall, dass ich es nicht kapiere, fährt er fort: »Du pisst aus deinen Schultern. Du schlägst mir auf den Magen, du dreckiger Scheißjude. Mit deinen Wurstfingern wirst du dir dein iPad ruinieren, machst du dir da keine Sorgen? Scheißjude!« Das sitzt. Definitiv.
beschimpfungen Möchten Sie dies zu Protokoll geben?, frage ich ihn. »Ja.« Ich starte die Videokamera, und er schlägt gleich einen ganz anderen Ton an. Er liebt alle Menschen, sagt er jetzt ruhig, und will ein freies Palästina. Ich protestiere. »Ich will, dass Sie das wiederholen, was Sie gerade zu mir gesagt haben«, fordere ich ihn auf. »Dass ich ein hässlicher Jude bin und das alles.« Er bestreitet, diese Äußerung getätigt zu haben, also wiederhole ich seine Worte, während die Videoaufzeichnung läuft. Er begreift, dass das vielleicht nicht so gut klingt, und sagt: »Sie sind schräg.« Ich mache die Kamera aus, und er poltert sofort los: »Fick dich, Jude! Du schmieriger Jude, du!«
Ich zünde mir eine Zigarette an. Wie der Blitz schießen Sicherheitsleute aus dem Boden und schicken mich weg. Rabiater Rassismus ist okay, rauchen nicht. Dies ist Washington, D.C., Sitz der amerikanischen Macht.
Zeit, etwas essen zu gehen. Wo kann man hier gut essen? Man hat mir geraten, nach Georgetown zu gehen, dort könne ich tolle Restaurants am Flussufer finden. Georgetown, die Heimat prominenter Demokraten wie Präsident John F. Kennedy, klingt nach einer ausgezeichneten Idee. Ich nehme ein Taxi und lasse mich irgendwo in Ufernähe absetzen. Ich spreche einen Mann an, der gerade seinen Hund ausführt, und frage ihn nach dem Thai-Restaurant.
»Woher kommen Sie?«, fragt er mich. Ich bin es leid, »aus Deutschland« zu sagen. Das rockt nicht. Und so sage ich, »aus Israel«. »Hmm«, sagt der Mann, als ob der Name Israel eine spezielle Bedeutung für ihn hätte. »Was halten Sie von Israel?«, frage ich ihn. »Ich bin überrascht über die Fähigkeit von Menschen, nach 2000 Jahren zu kolonisieren.« – »Interessanter Gedanke. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Antwort aufzeichne? Ich bin ein reisender Journalist und halte die Gedanken der Menschen fest. Wie ist übrigens Ihr Name?« – »Mein Name ist Andrew, und ich bin Anwalt.« – »Großartig. Lassen Sie uns reden.«
Kolonisieren Ich schalte die Aufnahme-App meines iPhones ein und frage ihn noch einmal: Was halten Sie von Israel? »Ich halte es für ein Wunder, dass Menschen nach 2000 Jahren ein Heimatland wiederaufbauen können.« – »Bevor ich Sie aufnahm, fragte ich Sie, was Sie von Israel halten, und Sie zeigten sich erstaunt darüber, dass sie nach 2000 Jahren kolonisierten.«
»Handelt es sich um einen unkorrekten Gebrauch des Wortes?« – »Nein. Ich wollte nur, dass Sie diesen Satz wiederholen, weil ich ihn interessant fand.« – »Kolonisierung ist nicht ganz das richtige Wort.« – »Aber Sie haben es verwendet, oder?« – »Ich weiß nicht, ob das Wort ›kolonisieren‹ (colonize) war, ich glaube, ich sagte ›zusammenwachsen‹ (coalesce), zurückzukommen und ein Heimatland zu organisieren.«
Ich stelle das iPhone ab. Er zieht seinen Hund näher zu sich heran, sieht mir direkt in die Augen und zischt: »Was die Nazis mit euch gemacht haben, macht ihr mit den Palästinensern!« Er ist wütend. Er ist voller Hass. Und ich soll wissen, wie sehr er mich hasst. Ich hätte ihm wohl besser sagen sollen, dass ich Deutscher bin. Ich habe den Appetit verloren. Ich kehre in mein Hotel zurück und schaue nach, was auf der großen weiten Welt los ist. Es ist so gut, Deutscher, und so hart, Jude zu sein.
Der Text ist ein Auszug aus Tuvia Tenenboms neuem Buch, das am 10. Oktober erschienen ist.
Tuvia Tenenbom: »Allein unter Amerikanern. Eine Entdeckungsreise«. Suhrkamp, Berlin 2016, 463 S., 16,95 €