Das Cover des modernen Kinderbuchklassikers »Schule der magischen Tiere« sieht aus wie immer, aber die Buchstaben darauf sind für viele ungewohnt: Es ist die ukrainische Ausgabe, wie auf dem Schild am Regal der internationalen Kinderbücherei im Münchner Schloss Blutenburg zu lesen ist. Bücher in 23 weiteren Sprachen - von Persisch bis Koreanisch, Arabisch bis Ungarisch - finden sich in der öffentlichen und kostenlosen Ausleihe der Internationalen Jugendbibliothek (IJB). Am 14. September wird sie 75 Jahre alt wird.
»Neben deutschsprachigen Büchern wird vor allem Kinderliteratur aus Japan sowie aus den osteuropäischen und spanischsprachigen Ländern nachgefragt«, sagt Jochen Weber, der seit 30 Jahren dort als Lektor tätig ist. Für viele Schulklassen biete der Besuch »Aha-Momente« der Völkerverständigung: »Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, sind stolz, wenn sie ihrer Klasse ein Buch in ihrer Muttersprache vorlesen können.«
International ist die von Bund, dem Land Bayern und der Landeshauptstadt geförderte Jugendbibliothek seit ihrer Gründung im Jahr 1949. Weil sie nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft kaum noch brauchbare Literatur für Kinder in Deutschland fand, beschloss die jüdische Journalistin Jella Lepman, in der Münchner Kaulbachstraße eine neue Bücherei zu etablieren: Mithilfe von Kinderbüchern aus aller Welt wollte sie die Idee von Begegnung, kulturellem Austausch und gegenseitigem Respekt neu in Kinderköpfe pflanzen.
Seit 1983 ist die Bibliothek im Münchner Schloss Blutenburg untergebracht
Die 1891 geborene Tochter Stuttgarter Kaufleute war 1936 mit ihren zwei Kindern nach London emigriert und im Oktober 1945 als Beraterin des US-Militärs für die »Reeducation« von Frauen und Kindern nach Deutschland zurückgekehrt. Der Aufbau der IJB, den Lepman mit Hartnäckigkeit und Ideenreichtum gegen viele Widerstände vorantrieb, wurde zu ihrem Lebenswerk. Seit 1983 ist die Bibliothek im Münchner Schloss Blutenburg untergebracht, einem 1432 erstmals urkundlich erwähnten Bau.
In der fast andächtigen Atmosphäre des Lesesaals haben sich an diesem Sommertag Forscherinnen aus Dänemark, Korea, Frankreich und Bulgarien mit ihren Laptops hinter Bücherstapeln vergraben. Sie gehören zu den etwa 15 Stipendiaten, die jedes Jahr für bis zu sechs Monate an der IJB forschen.
Die rund 670.000 Bücher in 240 Sprachen des Archivs stehen ihnen - aber auch der Öffentlichkeit - auf Anfrage im Lesesaal für ihre Studien zur Verfügung. Jedes Jahr kommen knapp 10.000 neue Titel aus aller Welt hinzu, ausgewählt von Jochen Weber und seinem fünfköpfigen Team. Das älteste Buch im Archiv: ein »Reineke Fuchs« auf Latein aus dem Jahr 1572.
Die Sammlung sei einmalig, sagt der Lektoratsleiter: »Die Internationale Jugendbibliothek ist das kulturelle Gedächtnis für Kinderliteratur der ganzen Welt.« Zum Archiv gehören auch eine seltene Sondersammlung »Nationalsozialismus und Militarismus« und umfangreiche Bestände aus der DDR. Auch heute bemühe man sich, trotz aller Hürden, um Titel aus Ländern mit autoritären Regimen wie Russland oder dem Iran.
»Die Zensurbehörden haben Kinderliteratur oft nicht so auf dem Schirm«, erklärt Jochen Weber - weshalb man neben ideologischen Werken auch in autoritären Ländern Bücher finde, die Werte wie Respekt vor anderen Kulturen oder Minderheiten vermittelten.
Soeben eröffnet wurde die Zungenbrecher- und Wortklang-Ausstellung »Klapperkisten Plapperkasten«:
Regelmäßig veranstaltet die Internationale Jugendbibliothek wissenschaftliche Tagungen, Workshops für Kinder, Lesungen, Konzerte und Ausstellungen. Gerade noch läuft die Schau zu Walter Trier, dem Illustrator der Klassiker von Erich Kästner, der wiederum zu den ersten Förderern der IJB zählte. Soeben eröffnet wurde die Zungenbrecher- und Wortklang-Ausstellung »Klapperkisten Plapperkasten«: Sie speist sich aus 15 Jahrgängen des Kinder-Kalenders der Bibliothek, der jedes Jahr 53 Gedichte in rund 30 Sprachen präsentiert.
Bücherei, Archiv, Sammlung, Ausstellung, Wissenschaft und Populärkultur - die Internationale Jugendbibliothek ist eine Wundertüte für Kinderliteratur in jeglicher Form. So war es schon 1949: Damals musste sich Jella Lepman sagen lassen, ihre Einrichtung sei wegen ihrer Kinder-Malkurse und der Debattiergruppen für Jugendliche keine Bibliothek, sondern »ein Zirkus«. Die dickköpfige Weltbürgerin ließ sich davon nicht beirren - zum Glück für die Kinderliteratur.