So geht Happy End: Am Schluss des zweiten Motti-Wolkenbruch-Romans von Thomas Meyer mit dem vielsagenden Titel Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin sitzt dieser wieder am elterlichen Schabbes-Tisch in Zürich, Vater Moses spricht den üblichen Segensspruch über den Wein, und neben Motti sitzt seine Freundin Hulda. Sie ist schwanger – und erhält Traubensaft statt Wein.
Ist die Welt der charedischen Familie Wolkenbruch aus Zürich also wieder in Ordnung? Und ist Sohn Motti, der in dem Bestseller Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse nach seiner (inzwischen auch verfilmten) Romanze mit dieser »Schickse« von seinen Eltern sogar für tot erklärt worden war und am Anfang des neuen Buches deshalb seine eigene Todesanzeige lesen muss, also wieder versöhnt mit seinen Eltern?
WELTHERRSCHAFT Grundsätzlich: Ja. Doch so einfach macht es Thomas Meyer sich und seiner großen Leserschar nicht. Denn zum einen irritiert an dieser einträchtigen Familienszene, dass Mutter Judith hier (wie auch sonst) »zu Hause keine fromme Kleidung mehr trägt, sondern farbenfrohe wallende«. Und zusätzlich noch »irgendwelche Räucherrituale abhält in ihrem Nähzimmer«. Ihre Verwandlung fand übrigens in Israel statt, als sie sich auf die Suche nach Motti begab.
Mottis neue Partnerin Hulda wiederum hat sich zwar bereit erklärt, zum Judentum überzutreten, ist also im Moment noch nicht jüdisch und damit eigentlich eine »Schickse«, so wie ihre Vorgängerin Laura. Es kommt aber noch schlimmer: Hulda war nämlich ursprünglich tatsächlich sogar die Agentin einer verschworenen Nazi-Gemeinschaft, die sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg unter ihrem neuen Führer Wolf in die bayerischen Berge in der Nähe von München zurückgezogen und sich dort munter fortgepflanzt hatte.
Nach dem Bruch mit seiner Familie wird Motti von Schicksalsgenossen aufgenommen.
Dort arbeiten sie, zum Teil mit verschleppten Zwangsarbeitern, aber auch aus Israel entführten Wissenschaftlern, weiter am »Endsieg«. Als Neogermanen betrachten sie, ganz im Geiste des »Führers«, die Juden weiterhin als die Wurzel allen Übels – und gehen deshalb im Laufe der Jahre dazu über, Agenten in alle Welt zu schicken. Auf diese Art sollen unliebsame Personen, die sich den Neogermanen in den Weg stellen könnten, liquidiert werden.
Todesliste Dass der unbescholtene Motti aus Zürich, der bisher vor allem einmal mit seinen eigenen Beziehungsproblemen beschäftigt war, auf so eine neogermanische Todesliste gelangt, schildert Thomas Meyer parallel zur Geschichte der unverbesserlichen Nazis. Denn Motti fliegt gleich zu Beginn des Romans nach Israel, um im Kibbuz Schmira, in dem die »Verlorenen Söhne Israels« zu Hause sind, Aufnahme zu finden.
härtetests Nachdem er dort gewisse Härtetests seiner neuen Freunde besteht, lancieren sie zusammen ein neues Produkt, Chaim’s Gold – es sind Orangen in verschiedenen Formen, die auf der ganzen Welt verkauft werden sollen. Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Tarnung aber die Organisation des »Weltjudentums«, das von Israel aus das jüdische Volk von der Geisel des Antisemitismus befreien will.
Organisation Motti steht der Organisation zwar anfänglich skeptisch gegenüber, denn er hatte »sich daran gewöhnt, dass es Antisemiten gibt, die niemanden verprügeln, keine Gräber schänden, gesittet diskutieren und aus genau diesen Gründen überzeugt sind, nicht antisemitisch zu sein, aber trotzdem einen Haufen Scheiße erzählen«. Solche Antisemiten, findet er, bekämpft man nicht mit einer Kampforganisation.
Doch schließlich lässt er sich überzeugen und macht mit, ja, er wird mit dem Tarnnamen »Mickey« sogar Chef der Organisation und selbst vom »Time Magazine« porträtiert. Weil die Nazis inzwischen über die modernsten technischen Geräte verfügen – ihr Kampfruf lautet nun nicht mehr »Sieg Heil!«, sondern »Sieg digital!« –, vermögen sie Mottis Tarnung mühelos zu durchschauen.
LIEBE Nun also tritt Hulda in Aktion – mit dem klaren Auftrag, in den verhassten Judenstaat zu fliegen, um Mickey/Motti zuerst dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben, und ihn daraufhin zu töten. Keine leichte Aufgabe, denn »Hulda hat noch nie jemanden umgebracht. Die Drecksarbeit haben immer andere erledigt«. Nun aber, da sie es tun soll, versagen ihre Agentinnen-Fähigkeiten. Sie verliebt sich in Motti, fast ebenso sehr in das israelische Essen, und lässt deshalb sämtliche Gelegenheiten, den Chef des »Weltjudentums« auftragsgemäß zu beseitigen, verstreichen.
Die Nazi-Agentin verliebt sich in Motti – und fast ebenso sehr in das israelische Essen.
Selbst durch die zufällige Begegnung mit Mottis Mamme in Tel Aviv, die dort erfolgreich ihren verlorenen Sohn sucht, wird sie nicht von ihrer Leidenschaft für Mann, Land und israelisches Essen abgebracht. Zumal die drei noch schnell den wegen der immer aggressiver auftretenden Hassmaschine (Meyers Ausdruck für das Internet mit seiner negativen Seite) drohenden Dritten Weltkrieg verhindern müssen.
Finale Was dann schließlich gelingt, worauf das eingangs geschilderte Zürcher Finale steigen kann. Dazu gehört dann auch, dass anschließend die Organisation des »Weltjudentums« aufgelöst wird. Die Neogermanen wiederum »funktionieren die Alpenfestung zur Automobilfabrik um und nennen sie ihrem Anführer zu Ehren Wolfsburg«. Die Welt geht zur Tagesordnung über – ohne Handys und Internet.
Hatte sich Thomas Meyer in Wolkenbruchs erstem Abenteuer nicht zuletzt auf die orthodoxe Gemeinschaft Zürichs konzentriert, weitet er mit seinem zweiten Wolkenbruch-Roman den Blick weit über diese kleine jüdische Gemeinschaft hinaus, freilich ohne sie aus den Augen zu verlieren.
Die satirischen Teile, die teilweise real beschreiben, wie in der heutigen Welt Hass, Vorurteile und auch der Antisemitismus via Internet den Weg wieder in die Köpfe der Menschen finden und damit die Arbeit der Neogermanen erleichtern, wirken nach – und hinterlassen beim Leser die Frage, in welche Welt denn Mottis und Huldas Kind hineingeboren wird. Vermutlich in keine heile.
Thomas Meyer: »Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin«. Diogenes, Zürich 2019, 288 S., 24 €