Geburtstag

Biermann will sich nach seinem Tod nicht langweilen

Wolf Biermann, Liedermacher und Lyriker mit jüdischem Familienhintergrund Foto: picture alliance/dpa

Nur wer sich ändert, bleibt sich treu – mit diesem Verdikt hat Wolf Biermann seine Abkehr vom Kommunismus erklärt. Für seine Lieder gilt das nicht. Auf einem neuen Album erscheinen zu seinem 88. Geburtstag am 15. November 22 Klassiker und weniger bekannte Titel, die von jüngeren Künstlern musikalisch interpretiert werden. Darunter sind Annett Louisan, Ina Müller, Meret Becker, Lina Maly und Alligatoah.

»Wolf Biermann re:imagined - Lieder für jetzt!« heißt das Coveralbum. In einem Ergänzungsalbum geht es nur um das vielleicht bekannteste Lied des ehemaligen DDR-Oppositionellen, die »Ermutigung«. Der in Hamburg lebende Liedermacher steuert selbst mehrere Variationen des Liedes bei.

»Wenn ein Lied was taugt, wenn das ein starkes Gedicht ist und eine schöne Musik hat, dann gibt es überhaupt keinen Grund, es nicht 100 Jahre später zu singen, auch wenn die Zeitumstände inzwischen extrem andere sind«, sagt Biermann im Interview.

Menschliche Substanz

Die menschliche Substanz von Hoffnung, Erleichterung und Verzweiflung, von Liebe und Hass im Streit der Welt sei schon etwas älter. Augenzwinkernd fügt er hinzu: »Ich kann mich genau daran erinnern, wie es in der Steinzeit war. Dort haben wir auch gelegentlich am Lagerfeuer vor der Höhle gesungen.«

Das Album sei eine Idee seiner Frau Pamela gewesen. Produziert wurde es vom Hamburger Musikverlag Clouds Hill, der zugleich die historischen Biermann-Alben »Chausseestraße 131« (1968) und »Warte nicht auf beßre Zeiten« (1973) in einer Box zum Coveralbum neu aufgelegt hat.

Mit der Auswahl der Lieder habe er selbst nichts zu tun gehabt, sagt Biermann. Das habe Clouds-Hill-Geschäftsführer Johann Scheerer gemacht. Der Sohn des Literaturwissenschaftlers Jan Philipp Reemtsma hat die Rechte an Biermanns Liedern gerade allumfassend akquiriert, wie sein Label mitteilt. Er brachte auch die jungen Künstler zusammen, die sich jeweils ein Lied aussuchen konnten.

Doppelzimmer auf dem Hugenottenfriedhof

Alligatoah interpretiert etwa das Lied »Der Hugenottenfriedhof«. Biermann sang es auf seinem berühmten Köln-Konzert am 13. November 1976, zu dem ihn die IG Metall eingeladen hatte und das seine Ausbürgerung aus der DDR zur Folge hatte. Er beschreibt darin einen Spaziergang mit seiner Geliebten über den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

Erwähnt werden die Gräber des Dichters Bertolt Brecht, des Komponisten Hanns Eisler sowie die Gründer der Kommunistischen Partei, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. »Wie nah sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben«, heißt es im Refrain.

»Oh ja«, sagt Biermann auf die Frage, ob er bei der Erwähnung dieser Namen immer noch so empfinde. »Und die werde ich ja demnächst auch wieder treffen, wenn ich tot bin«, fügt er hinzu. »Ich habe mir mit meiner Frau Pamela schon ein Doppelzimmer gemietet auf dem Hugenottenfriedhof.«

Langes Warten

Die Zeit bis zu seinem Tod könne sich noch etwas hinziehen. »Manche hoffen das, und manche hoffen auch, dass es bald geschieht, weil ich ja im Streit der Welt nicht nur gute Freunde, sondern auch treue Feinde habe.«

Biermann zählt die Toten auf, die in der Nähe seiner Grabstelle liegen werden, darunter der von ihm verehrte Hanns Eisler, der Dramatiker Heiner Müller und der Philosoph Hegel sowie die kommunistischen Autoren Johannes R. Becher, Anna Seghers und Stephan Hermlin.

»Sie sehen, ich bin dort umgürtet von hochinteressanten Leuten. Und das muss auch sein, damit ich mich nicht zu Tode langweile, wenn ich tot bin.« Denn schließlich werde er 20 bis 30 Jahre auf seine 1963 geborene Frau Pamela, »die seit über 40 Jahren meine Eheliebste ist«, warten müssen. »Wenn man den Fehler macht und eine viel zu junge Frau heiratet, dann muss man im Grab sehr, sehr lange warten, bis sie endlich kommt.«

»Soldat Soldat« und Israel

Die deutsch-polnische Sängerin Balbina ist auf dem Album mit einer Interpretation des Liedes »Soldat Soldat« zu hören. Wie passt diese Hymne des Antimilitarismus aus dem Jahr 1965 zu den Soldaten, die heute die Ukraine oder Israel verteidigen? »Die Juden verteidigen sich gegen die menschenverachtende Hamas. Sie sind der Meinung, dass sie nicht ausgerottet werden möchten. Das hat schon Hitler versucht, und das finden sie irgendwie genug.«

Biermann ist kein Pazifist. Früher hat er den Kampf der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg besungen. Würde er sich heute einer internationalen Brigade in der Ukraine anschließen? »Natürlich würde ich das«, sagt er. Schließlich sei sein kommunistisch-jüdischer Vater indirekt im Spanischen Bürgerkrieg gefallen. Als Arbeiter im Hamburger Hafen habe er die Verladung von Rüstungsgütern sabotiert und sei dafür in den Tod gegangen.

Lange Zeit hat sich Biermann als der wahre Kommunist verstanden. »So oder so, die Erde wird rot«, sang Biermann vor 48 Jahren in Köln. Jetzt intoniert die in der DDR geborene Annett Louisan mit zarter Stimme und ohne jede Agitprop-Allüre das Lied »So soll es sein - so wird es sein«, in dem es heißt: »Dem Bourgeois auf die Finger schaun, das genügt nicht! Auf die Pfoten haun wolln wir das fette Bürgerschwein.«

»Dummer Vers«

Biermann urteilt über seine damaligen Zeilen hart: »Das ist eine schlechte, altmodische Metapher, die außerdem unrealistisch ist, denn die wirklich reichen Leute können Sie daran erkennen, dass sie sportlich und mager sind, und die wirklich armen Leute, dass sie verfettet sind. Auch daran sehen Sie, was für ein dummer Vers das ist.«

Sosehr er sich in seinen Ansichten geändert hat, so treu bleibt er sich als Künstler. Unterlegt von harten Beats erklärt er auf dem Zusatz-Album die Entstehungsgeschichte des Liedes »Ermutigung«. In einer anderen Variation greift er selbst wieder zur Gitarre und singt, summt und brummt dazu, so wie seine Fans es seit Jahrzehnten lieben. Zum Schluss hält er den Ton eine Dreiviertelminute.

Zwei Tage vor seinem 88. Geburtstag, am 13. November, wird er im Hamburger Thalia-Theater wieder auf der Bühne stehen, zusammen mit zahlreichen Interpreten des Coveralbums. Dann wird sich zeigen, ob seine künstlerischen Erben einen ebenso langen Atem haben.

Meinung

Maria und Jesus waren keine Palästinenser. Sie waren Juden

Gegen den Netflix-Spielfilm »Mary« läuft eine neue Boykottkampagne auf Hochtouren. Der Grund: Die Hauptdarstellerin ist israelische Jüdin

von Jacques Abramowicz  18.11.2024

Fachtagung

»Unsäglich« - Kritik an Antisemitismus in der Kultur

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische und israelische Kulturschaffende sehr schwierig geworden. Damit beschäftigt sich jetzt eine Tagung in Frankfurt - auf der auch Rufe nach einer differenzierten Debatte laut werden

von Leticia Witte  18.11.2024

Kultur

Sehen. Hören. Hingehen.

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. November bis zum 21. November

 18.11.2024

Runder Geburtstag

Superheldin seit Kindesbeinen

Scarlett Johansson wird 40

von Barbara Munker  18.11.2024

Netflix

Zufall trifft Realität

Das Politdrama »Diplomatische Beziehungen« geht in die zweite Runde – Regisseurin Debora Cahn ist Spezialistin für mitreißende Serienstoffe

von Patrick Heidmann  17.11.2024

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 17.11.2024

Literatur

Schreiben als Zuflucht

Der israelische Krimi-Bestsellerautor Dror Mishani legt mit »Fenster ohne Aussicht« ein Tagebuch aus dem Krieg vor

von Alexander Kluy  17.11.2024

Madoschs Mensch

Wie eine Katze zwei Freundinnen zusammenbrachte – in einem Apartment des jüdischen Altersheims

von Maria Ossowski  17.11.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Wem »Jude« nicht passt, muss noch lange nicht »Jew« sagen

von Joshua Schultheis  17.11.2024