Interview

»Woke Facette des Antisemitismus«

»Spiegel«-Kolumnist Sascha Lobo über den antisemitischen Israel-Bericht von Amnesty International, »wokes« Bewusstsein, Blindflecken und linken Judenhass

von André Anchuelo  07.02.2022 12:21 Uhr

»Wenn es einem ins Konzept passt, sagt man »Zionist« oder »Israeli« statt »Jude« – meint aber das Gleiche.« Foto: picture alliance / Kai-Uwe Wärner

»Spiegel«-Kolumnist Sascha Lobo über den antisemitischen Israel-Bericht von Amnesty International, »wokes« Bewusstsein, Blindflecken und linken Judenhass

von André Anchuelo  07.02.2022 12:21 Uhr

Herr Lobo, in Ihrer am Mittwoch erschienenen Kolumne bei »Spiegel Online« geht es um den antisemitischen Israel-Bericht von Amnesty International, um sogenanntes wokes Bewusstsein und linken Antisemitismus. Wie groß ist das Antisemitismusproblem bei der linken, woken Bewegung in Deutschland?
Deutschland insgesamt hat – und ist zum Teil – ein Antisemitismusproblem, in vielen Facetten. Es handelt sich um ein ausuferndes und tiefgreifendes Set an antisemitischen Einstellungen, die zusammen einen großen Antisemitismus in den verschiedensten, sich ändernden Geschmacksrichtungen ergeben. Es ist daher fast müßig, über die Feinheiten neuer Antisemitismen nachzudenken. Aber eben nur fast. Ich glaube, was ich als »woken Antisemitismus« beschrieben habe, ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen.

Inwiefern?
Dieser Wein ist der linke Antisemitismus. Diejenigen, die auf Wokeness achten – zu denen ich übrigens auch gehöre, ich halte Wokeness explizit für eine gute Sache –, sind eher links. Und dass wir einen linken Antisemitismus haben, der in vielen Fällen den Trugschluss mitbringt, es gäbe keinen linken Antisemitismus, das ist bekannterweise schon lange so. Ich habe in meiner Kolumne absichtlich neben Jürgen Trittin eine sehr linke Figur thematisiert, nämlich Dieter Kunzelmann. Kunzelmann war ja eine Art linker Bilderbuch-Antisemit der Nachkriegszeit. Inklusive eines Bombenanschlags auf das jüdische Gemeindehaus in Berlin 1969 – viel antisemitischer geht es kaum mehr. Wir reden also von einem sehr alten Problem. Aber so, wie sich die linke Debatte weiterentwickelt hat, nämlich in Richtung Wokeness, gibt es eben inzwischen auch eine woke Facette des Antisemitismus.

Wie würden Sie im Gegensatz zur hergebrachten linken Bewegung die Wokeness-Bewegung definieren?
Wokeness ist keine Bewegung, eher eine Form von Welt- und Kommunikationshaltung, eine Art von Sicht auf die Welt und die Sprache. Wokeness kommt aus dem amerikanischen Debattenraum, der immer ein bisschen weiter ist als der deutsche. Manchmal radikaler, manchmal quatschiger, manchmal verkopfter. Positiv wie negativ, in alle möglichen Richtungen. »Woke« bedeutet, ein Bewusstsein für Diskriminierungen zu haben, das sowohl in Sprache wie auch in Alltagssichtweisen und -handlungen Eingang findet. Das ist erstmal nichts Falsches, im Gegenteil. Es kann auch bedeuten, dass urantisemitische Begrifflichkeiten hinterfragt werden, die man im 20. Jahrhundert oft genug gehört hat. Wo Leute bedenkenlos unfassbare Dinge gesagt haben wie »bis zur Vergasung«. Wokeness ist eine Haltung, genau zu schauen, was eigentlich gesellschaftlich und sprachlich passiert und wie man der Diskriminierung entgegenwirken kann.

Wie kommt nun der israelbezogene Antisemitismus ins Spiel?
Weil Wokeness offensiv versucht, auf Diskriminierung zu achten, fällt das klassisch Antisemitische bei den einigermaßen cleveren woken Leuten erstmal weg. Es wäre den meisten wohl zu platt, zu sagen: »Juden sind x« oder »Juden machen y«. Aber praktisch seit der Gründung Israels gibt es diesen schlechten Trick, dass man natürlich nichts gegen Juden hat, aber eben leider gegen Israel, der bloß ganz zufällig der einzige jüdische Staat ist. Also sagt man immer, wenn es einem ins Konzept passt, »Zionisten« oder »Israelis« statt »Juden« – meint aber das Gleiche. Das passiert auch beim woken Antisemitismus: Man versucht mit Mitteln einer vermeintlich linken Menschenrechtsperspektive eine Situation zu konstruieren, dass am Ende doch wieder allein »die Juden« schuld sind – über den Umweg Israel und Zionismus. Man wird von einer woken Person wahrscheinlich eher nicht hören »die bösen Juden beherrschen die Welt«. Man wird eher etwas hören wie »Israel hat zu viel Macht und unterdrückt ohne Not die armen Palästinenser« – was aber fast das gleiche Narrativ ist. Deutscher Antizionismus ist Antisemitismus.

Besonders für (West-)Deutschland gibt es ja die Beobachtung, dass etwa bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 Israel von der Linken sympathisierend als der David im Konflikt mit den arabischen Staaten wahrgenommen wurde und danach das Image des Goliaths bekam.
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, auch wenn ich das ab und an gehört habe, dass die Nachkriegslinke so arg pro-israelisch war. Was die Linke damals sicher sein wollte, war ein Stachel im Fleisch der Väter, die judenhassende Nazis waren. Gleichzeitig gab es natürlich so etwas wie ein deutsches, schlechtes Nachkriegsgewissen. Aber ein schlechtes Gewissen hört meist irgendwann auf, es sucht sich regelrecht Gründe, um sich selbst abzuschaffen. Da kommt sehr gelegen, wenn die Gruppe, der man dieses schlechte Gewissen glaubt zu schulden, etwas tut, was sich nicht nach hilflosem Opfer anfühlt. In den Köpfen einiger Deutscher ist absurderweise mit der Selbstverteidigung Israels aus einer Opfergruppe eine Tätergruppe geworden. Mit großer Erleichterung nach dem Motto »Wir sind ja gar nicht die einzigen Schlimmen, die damaligen Opfer sind ja jetzt auch schlimm«: Schuldabwehr. Diese Trugschlüsse sind antisemitisch, und sie sind ein Anzeichen dafür, dass die Nachkriegslinke in Deutschland wahrscheinlich nie besonders israelfreundlich war und dass Ereignisse wie der Sechs-Tage-Krieg eher Anlässe waren, herauszulassen, was einem vorher schon im Bauch herumrumorte.

Aber wie geht dieser Schuldabwehrmechanismus der deutschen Täterkinder damit zusammen, dass nun der antisemitische Israel-Bericht von Amnesty ja aus dem Vereinigten Königreich kam und nicht etwas aus Deutschland? Dieser Mechanismus kommt ja dort nicht zum Tragen, oder?
Nein, in UK gibt es andere Probleme – Stichwort Jeremy Corbyn und das Labour-Motto »For the Many, not the Few«, wo beim letzten Wort manchmal augenzwinkernd der Buchstabe F in J geändert wurde. Worauf ich mich beziehe: Dieser mit seinen Apartheid-Vergleichen und struktureller Hamas-Verharmlosung eindeutig antisemitische Bericht wird vom deutschen Amnesty-Chapter nicht zurückgewiesen, sondern lediglich halbgar mit einem Erklärungsversuch versehen, der es noch schlimmer macht, die Debatte sei hierzulande aus historischen Gründen gar nicht objektiv möglich. Das heißt aus meiner Sicht: Amnesty meint offenbar, die Leute seien hier wegen des Holocausts für eine zünftige, israelfeindliche Diskussion zu emotional. Das ist für mich ein latent antisemitisches Entschuldigungsnarrativ.

Ihre Kritik im »Spiegel« bezieht auch den »Spiegel« selbst mit ein, der ja nach wie vor ein Leitmedium ist. Warum liegt er, wie auch andere deutsche Leitmedien beim Thema Israel, immer wieder daneben, wenn beispielsweise schon in den Überschriften Ursache und Wirkung vertauscht werden?
Als freier Kolumnist werde ich mir nicht anmaßen, für den ganzen »Spiegel« zu sprechen. Erstmal freue ich mich, dass ein kritischer Satz über den »Spiegel« im »Spiegel« möglich ist. Das ist nicht selbstverständlich. Ich sehe es als positives Zeichen, denn aus meiner Sicht führt bei vielen Leitmedien in Deutschland ein schwieriges Verständnis immer mal wieder dazu, den Konflikt gewissermaßen durch die Hamas-Brille zu sehen. Was folgender Satz zum Ausdruck bringt: »Es fing alles damit an, dass Israel zurückschlug.« Es gab im »Focus« mal ernsthaft die Überschrift »Israel droht mit Selbstverteidigung«, das ist einfach grotesk. Dieser Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr, blendet eine simple, aber hochrelevante Erkenntnis aus: Wenn Hamas aufhören würde zu kämpfen, würde Frieden einkehren. Wenn Israel aufhören würde dagegenzuhalten, würde es von der Landkarte verschwinden. Das kann man einfach nicht leugnen.

Sie haben auch die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen in ihre Kritik einbezogen. Ihr »ansonsten großer und wichtiger Kampf gegen Diskriminierung« nehme durch ihre unklare Haltung zum Antisemitismus Schaden, insbesondere im Zusammenhang mit der BDS-Bewegung. Wie meinen Sie das?
Ich schätze Claudia Roth sehr, aber ich glaube anders als sie, dass die verschiedenen Länder-Parlamente, die BDS als antisemitische Bewegung eingestuft haben, vollkommen richtigliegen. Roths Begründung, warum sie mit einigen anderen nicht für die Einordnung des BDS als antisemitisch gestimmt hat: Es handele sich um eine dezentrale Bewegung, deshalb seien einzelne antisemitische Aktionen nicht prägend für die ganze Bewegung. Abgesehen davon, dass es ganz schön viele Einzelfälle sind und die meisten Aktivisten des BDS trotz ihrer Unterschiedlichkeit zweifellos jubeln würden, wenn ganz Israel ins Meer gescheucht würde – die meisten großen Bewegungen des 21. Jahrhundert sind eher dezentral. Fridays for Future zum Beispiel, und trotzdem lässt sich sehr gut einschätzen, wie sie ticken. Wenn man glaubt, es ginge BDS nur um das tatsächlich wichtige und hehre Ziel der Menschenrechte für Palästinenser, weil das in irgendeinem Manifest steht, dann zeugt das vor allem vom Nichtverständnis dezentraler Bewegungen. Ich glaube, dass Roth hier einen schlimmen definitorischen Fehler macht. Ginge es BDS wirklich um die Menschenrechte in Gaza, müssten sie vor allem die Hamas bekämpfen, die zum Beispiel Frauen oder Homosexuellen alle möglichen Rechte verwehrt.

Stichwort »Fridays for Future«, oder auch »Black Lives Matter« – warum gibt es auch in diesen Bewegungen immer wieder antisemitische Vorfälle?
Antisemitische Haltungen sind eben sehr weit verbreitet. Und viele Leute folgen gern den simplen, plakativen Erzählungen. Da sieht es dann auf den ersten Blick aus, als wären auf der einen Seite »arme palästinensische Freiheitskämpfer«, die gegen den »bösen Staat Israel« ankämpfen, der besser organisiert ist, der Atombomben hat und so weiter. Es ist aber – unabhängig von der Vielschichtigkeit des Konflikts – kein Zufall, dass so viele Leute das glauben, der Hintergrund lässt sich mit dem Begriff »Pallywood« auf den Punkt bringen, ein Kofferwort aus »Palästina« und »Hollywood«. Dieser spöttische Begriff sagt aus, dass in den vergangenen Jahrzehnten zum Beispiel von Seiten der Hamas und der Fatah Bilder und Filme inszeniert wurden, bei denen man sofort denkt: böses Israel, arme Palästinenser. Sie sind ärgerlich oft in naiver Weise von westlichen Medien übernommen worden. Dieses Narrativ – gegen den Unterdrücker – findet natürlich besonders in linken Kreisen weltweit Widerhall.

Sie schreiben in ihrer Kolumne auch, dass Sie ein Mittel gegen den »woken Antisemitismus« kennen: »Jüdinnen und Juden in die Wokeness miteinzubeziehen.« Was bedeutet das?
Ich weiß selber, dass das ein bisschen großsprecherisch ist. Der »woke Antisemitismus« erscheint ja relativ neu. Würde man vom »linken Antisemitismus« sprechen, dann würde ich nicht sagen, dass ich dagegen ein Mittel habe. Aber ich habe das so formuliert, um die Bigotterie vieler woker Antisemiten ein bisschen hervorzupolieren. Denn natürlich ist das, was man als Wokeness bezeichnet, ursprünglich gegen jede Diskriminierung gerichtet. Wenn man aber dann über Bande doch Juden diskriminiert, wäre eigentlich angebracht, dass man die eigenen Haltungen mal konsequent zu Ende denkt. Es ist aber eher eine provokative Formulierung, als tatsächlich ein Rezept. Ich glaube nicht, dass es bei den Leuten, die ich damit adressiert habe, so einfach funktioniert. Dass die plötzlich sagen: »Ach ja stimmt, jetzt bin ich überzeugt, dann mache ich das nicht mehr.« Auch wenn es schön wäre, wenn sich Bigotterie so einfach bekämpfen ließe.

Hinzu kommt: Im linken Antisemitismus gibt es ja schon lange das Phänomen, dass antisemitische Gruppen oder Bewegungen auf sogenannte Alibi-Juden verweisen, die ihre Ideologie teilen und vertreten. Dort wird ja auch behauptet, man habe Juden miteinbezogen.
Hier muss man erstmal ein paar Schritte zurücktreten und den Menschen an sich betrachten, der ein extrem widersprüchliches Wesen ist. Es gibt zum Beispiel Leute, die für die Aufmerksamkeit und Anerkennung Dinge tun, von denen man glaubt, dass sie eigentlich undenkbar für sie sein müssten. Und selbstredend ist eine Person, bloß weil sie jüdisch ist, nicht automatisch woke oder israelfreundlich. So gibt es eben auch jüdische Menschen, die antisemitische Dinge sagen ebenso wie Juden, die hier schlicht eine sehr andere Haltung haben. Aus meiner Sicht ist eine innerisraelische oder innerjüdische Diskussion auch anders zu bewerten als eine in Deutschland. Aber das zu instrumentalisieren, halte ich für die zentrale Unredlichkeit. Es gab schon immer »den jüdischen Zeugen« für Antisemiten, der diesen bestätigt, dass sie genau richtig handelten, dass die »Protokolle der Weisen von Zion« angeblich doch echt gewesen seien und so weiter.

Ist es nicht auch problematisch, wenn man den Antisemitismus unter so etwas wie »Diskriminierung« subsumiert? Da steckt ja noch ein ganzes Ideologiegebäude dahinter.
Das ist ein Begriff, der nicht nur eine Dimension hat. Diskriminierung ist zunächst die unredliche, abwertende Unterscheidung zwischen verschiedenen Menschen und Menschengruppen. Dass beim Antisemitismus das Fundament darunter eine jahrtausendealte, ideologische Sündenbock- und Hasskonstante ist, stimmt. Aber ich möchte das weder verharmlosen oder verkleinern. Es geht darum, bestimmte sprachliche und geistige Parallelen zu finden. Wokeness hat als Bewusstsein für Diskriminierung viel mit Sprache zu tun, und wir wissen spätestens seit LTI, wie stark Sprache und Antisemitismus wechselwirken können.

Was bedeutet denn die Zentralität von Sprache im woken Bewusstseins für die Bekämpfung des Antisemitismus?
Darüber muss man sich Gedanken machen; ich sehe bisher keine eindeutige Antwort. Das Paradebeispiel der Wokeness ist, dass man ein Bewusstsein dafür entwickelt, das N-Wort einfach nicht mehr zu sagen – nie, nirgends, von nicht-schwarzen Menschen jedenfalls nicht. Warum? Weil es rassistisch diskriminiert, weil es verletzt, weil dahinter eine uralte Unterdrückungshistorie steht. Was das für Antisemitismus bedeutet? Gar nicht so einfach zu sagen. Auch weil Antisemitismus ja nicht einfach eine Variante des Rassismus ist, sondern eine andere ideologische Färbung mitbringt. Deswegen gibt es auch so viele verschiedene Antisemitismen, weil das oft auf einer Abstraktionsebene stattfindet. Wir haben ja sogar Antisemitismus ganz ohne Juden. Wir haben jüdisch gelesene Figuren in der Öffentlichkeit, gegen die antisemitisch gehetzt wird, obwohl sie keine Juden sind. Erst vor ein paar Tagen ging in den sozialen Medien ein Statement wohl aus dem Duden herum, man solle nicht Jüdinnen und Juden sagen, sondern »Menschen jüdischen Glaubens« oder »jüdische Mitbürger«. Das halte ich für Quatsch. Die Begründung war etwa, dass »Jude« als Schimpfwort verstanden werde. Tatsächlich wird es von Antisemiten oft als Schimpfwort benutzt, aber dieser Missbrauch ist doch die eigentliche Katastrophe. Man darf deswegen nicht aufhören, Jüdinnen und Juden zu sagen. Ein Ansatzpunkt für Wokeness könnte also sein, den Begriff oder die Bezeichnung Jude oder Jüdin im besten Sinn zu normalisieren – und das auf einer Ebene zu tun, die nicht diskriminatorisch ist.

Mit dem Autor und Strategieberater sprach André Anchuelo

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