»Café Nagler«

Wo Kafka doch nie Kaffee trank

Das weltberühmt »Café Nagler« – irgendwo am Moritzplatz in Berlin Foto: Salzgeber und Co Medien GmbH

In den 90er-Jahren reisten die Filmemacher Naomi Kaplansky und Ehud Yaari in die Steppen und unwegsamen Gebirge zwischen Don, Krim und Kaukasus. Dort hatte einst das wilde Reitervolk der Chasaren geherrscht, dessen Anführer im 8. Jahrhundert zum Judentum übergetreten waren. Der dreiteilige Dokumentarfilm über die sagenumwobenen Chasaren lässt viele Fragen offen, zeigt aber beispielhaft, dass die Suche – nicht das Finden – das Abenteuer ist.

Einen Film über ihre eigene Familiengeschichte zu machen, wäre Naomi Kaplansky damals nie in den Sinn gekommen. Dabei hätten die Familienerzählungen reichlich Stoff dafür geliefert: 1908 hatten Naomis Großeltern Rosa und Ignatz am Berliner Moritzplatz das Café Nagler eröffnet. In den 20er-Jahren waren dort angeblich alle zu Hause, die in der Hauptstadt Rang und Namen hatten, »von Einstein bis Kafka«. Sogar der Swing-Tanz, so erzählte man sich in der Familie Nagler, sei im gleichnamigen Café erfunden worden.

Mythos 1925 verließen die Großeltern kurzerhand das lärmende Berlin, um ins ferne Palästina auszuwandern. Das reich verzierte Geschirr, das Silberbesteck und den Billardtisch aus ihrem Café nahmen sie mit. Für Naomi war das Café Nagler so stets Teil des Alltags. Die Geschichte des Kaffeehauses ist der Ur-Mythos der Familie, fester Bestandteil auch von Naomis eigener Identität. Umso glücklicher ist die über 80-jährige Dame, als ihre Enkelin Mor beschließt, nach Berlin zu reisen und einen Dokumentarfilm über das Café zu drehen.

Die ersten zwei Drittel des Films erzählen sehr unterhaltsam und berührend von Mors Suche nach Spuren des Kaffeehauses in Berlin. Eine Suche, die allerdings im märkischen Sand verläuft, denn Naomis Enkelin muss sich schließlich eingestehen, dass das Café zwar groß und elegant, doch letztlich nicht mehr als ein unbedeutendes Kiezlokal gewesen ist, über das kein Historiker etwas zu berichten weiß.

Und damit fangen Mors Probleme erst richtig an, denn sie will der enthusiastischen Großmutter nicht ohne einen Film über das »legendäre Café Nagler« unter die Augen treten. So verfällt die junge Frau auf die Idee, eine Art »kreativen« Dokumentarfilm zu machen, in dem Berliner vor der Kamera wahre Familiengeschichten erzählen, die sich angeblich einst im Café Nagler zugetragen haben sollen.

Enkelin Dieser Kunstgriff erweist sich indes als Schwäche des Films: Gerade weil Naomi und ihre Enkelin so sympathische, witzige und geistreiche Protagonisten sind, fällt der Film im letzten Drittel, ohne die beiden Frauen im Zentrum der Erzählung, ein wenig ab. Man sieht sich die etwas ermüdenden »kreativen« Interviews eigentlich nur an, weil man hofft, dass bald wieder Naomi und ihre Enkelin auftauchen.

Erst in den letzten Minuten, wenn die ganze Familie in Israel vor der Kamera zusammenkommt, um sich gemeinsam den Film anzusehen, gewinnt dieser für wenige Minuten noch einmal seine anfängliche Wärme und Faszination zurück. Und so ist Café Nagler ein leider nur fast gelungener Film über die identitätsstiftende Strahlkraft wunderschöner Familienlegenden – und über die Liebe zwischen Großmutter und Enkelin. Mor Kaplanskys Plan, ihren nächsten Film wieder mit Naomi vor der Kamera zu machen, lässt allerdings hoffen.

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