Tagung

Wo ist Zuhause?

In der Bundesrepublik galt der Begriff lange als belastet und problematisch, doch seit Kurzem ist er wieder in aller Munde: Heimat. Im vergangenen Dezember rief Sigmar Gabriel (SPD) seine Partei auf, offen über »Heimat« und »Leitkultur« zu debattieren.

Das von Horst Seehofer (CSU) geleitete Bundesinnenministerium wird um ein »Heimatministerium« ergänzt. Wie könnte eine jüdische Perspektive auf diesen politisch und ideologisch umkämpften Begriff aussehen?

Die Vielfalt jüdischer Heimatvorstellungen stand im Mittelpunkt einer dreitägigen Konferenz in Frankfurt, die von der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland organisiert wurde.

Etwa 170 Teilnehmer aus ganz Deutschland kamen ins Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum. Unter den Referenten waren Wissenschaftler wie Hartmut Rosa, Micha Brumlik und Karen Körber, aber auch die Schriftstellerin Barbara Honigmann und der Frankfurter Gemeinderabbiner Julian-Chaim Soussan.

Die Teilnehmer stammten überwiegend aus jüdischen Gemeinden, aber auch aus der interessierten jüdischen Öffentlichkeit, sagt Sabena Donath, Leiterin der Bildungsabteilung. Der Tagungsort ist nicht zufällig gewählt. »Unsere Zukunft wird in Frankfurt sein«, betont Donath im Hinblick auf die geplante Errichtung einer Jüdischen Akademie am Rand des zukünftigen Kulturcampus.

Utopie Wie vielschichtig das Tagungsthema ist, zeigt schon der Titel: »Migration, Verlust und Utopie. Von der jüdischen Sehnsucht nach Heimat«. Das Wort »Heimat« suche man vergeblich in jüdischen Lexika, sagt Salomon Korn, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, in seinem Grußwort. »Migration« und »Verlust« seien jedoch Teil der kulturellen DNA der jüdischen Gemeinschaft. Gerade deshalb gebe es eine originär jüdische Sehnsucht nach Heimat, so Korn. Er erwähnt Heinrich Heines Ausspruch von der Bibel als »portativem Vaterland« der Juden.

Den Aspekt der »Utopie« streift Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung. »Dieses Haus ist ein Stück Utopiearbeit«, sagt Kiesel über das 1986 eingeweihte Gemeindezentrum. Das Haus zu bauen, »war eine Entscheidung, Heimat zu konstruieren«, so Kiesel. Er macht auch darauf aufmerksam, dass es den Begriff »Heimat« im Hebräischen nicht gibt.

Einen komplexen, aber dennoch kurzweiligen Vortrag hält am ersten Konferenzabend Hartmut Rosa. Die Ausführungen des Jenaer Soziologen kreisen um den Leitbegriff »Resonanz«. Darunter versteht Rosa verschiedene Arten, zur Welt in Beziehung zu treten. Er spricht von drei Dimensionen der Resonanz. Liebe, Freundschaft und Politik bezeichnet er als »horizontale Resonanzachsen« – so sei es wichtig, die eigene Stimme öffentlich hörbar zu machen und anderen zuzuhören.

Arbeit, Bildung, Sport und Konsum sind bei Rosa »diagonale Resonanzachsen«, während er Religion, Natur, Kunst und Geschichte als »vertikale Resonanzachsen« bezeichnet. Im Judentum gebe es eine »Resonanzbeziehung« zu Gott, sagt Hartmut Rosa und rät zur Lektüre von Martin Buber. »Heimat« sieht Rosa zusammenfassend als »Inbegriff der Sehnsucht nach einem Resonanzhafen in einer kalten und stummen Welt«.

Hoffnung Den zweiten Konferenztag eröffnet Micha Brumlik mit einem philosophisch-theologischen Vortrag über Heimatkonzepte im Judentum von der Antike bis zum Zionismus. Er zitiert dabei, wie auch andere Redner, eine Sentenz aus Das Prinzip Hoffnung, dem Hauptwerk des Philosophen Ernst Bloch. Wenn der Mensch zu sich und zu »realer Demokratie« finde, entstehe laut Bloch in der Welt »etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«. Wo eines Menschen Heimat wirklich sei, obliege »seinem Selbstverständnis und seinen Erfahrungen und Hoffnungen«, schlussfolgert Brumlik.

Anschließend spricht die Hamburger Soziologin Karen Körber über »(russisch-)jüdische Zugehörigkeiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft«. Im Jahr 2014 befragte Körber 70 russischsprachige Juden im Alter von 20 bis 40 Jahren über ihr Verhältnis zu Deutschland und Israel. Die meisten Probanden fühlten sich in Deutschland zwar heimisch und zugehörig, definierten sich jedoch nicht als Deutsche.

Vielmehr identifizierten sie sich zumeist als Juden, erläutert Körber. Das ambivalente Verhältnis zu Deutschland führt Körber auf mehrere Faktoren zurück. Zum einen sei die Kategorie »deutsch« in der heutigen Einwanderungsgesellschaft schwer zu definieren. Auch teilten junge russischsprachige Juden die historische Verantwortung und Schuld der deutschen Gesellschaft nicht. Vielmehr hätten sie »eine eigene Form der Erinnerung«.

Israel Als weiteren Faktor nennt Körber Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung wegen ihres Migrationshintergrunds. Für Aufsehen sorgen Körbers Ausführungen zum Verhältnis der Befragten zu Israel. Deren Bindung an den jüdischen Staat sei eher privat und familiär: Sie besuchen dort Verwandte oder machen Urlaub. Für junge russischsprachige Juden habe Israel keine große Relevanz, wenn es um das eigene Jüdischsein geht, beobachtet Karen Körber.

Ein Workshop beschäftigte sich mit der Bedeutung des Essens.
Auf reges Interesse der Tagungsteilnehmer stoßen am Donnerstag vertiefende Workshops zu insgesamt sechs Themen. Sie befassen sich beispielsweise mit Heimatfantasien in der Migration, der Bedeutung des Essens für die Identität nach der Auswanderung sowie mit Heimatvorstellungen in biblischen Texten.

Nikoline Hansen nahm an Alina Gromovas Workshop »Erinnerungskultur und Heimat: Kritik der musealen Repräsentation« teil (vgl. Gromovas Beitrag in der Jüdischen Allgemeinen vom 1. März). »Sehr spannend«, resümiert Hansen, da alle Teilnehmer sich schon vorher mit dem Thema beschäftigt hätten. Tatiana Geller besuchte unter anderem Saba Nur Cheemas Workshop »Interkulturalität, Identität und Heimat«. »Es war wunderbar«, findet Geller. Die Teilnehmer hätten sich austauschen können.

Am Freitagmittag, kurz vor Konferenz-ende, zieht Nikoline Hansen ein persönliches Fazit. »Das Wichtigste für das Heimatgefühl ist die kulturelle Prägung, mit der man aufgewachsen ist«, sagt die Berlinerin. Tatiana Geller ist begeistert von der Konferenz: »Ich werde meine Erkenntnisse und Eindrücke an meine liberale Jüdische Gemeinde in Hameln weitergeben.«

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