Geistesgeschichte

»Wirklicher Liberalismus«

Kaufmannssohn, Jurist und Politikwissenschaftler: Adolf Grabowsky (1880–1969) Foto: ullstein bild - ullstein bild

Geistesgeschichte

»Wirklicher Liberalismus«

Die Biografie des Politikwissenschaftlers Adolf Grabowsky zeigt exemplarisch, warum Konservatismus und Fortschritt keine Gegensätze sein müssen

von Matthias Oppermann  14.04.2025 21:39 Uhr

Der Konservatismusbegriff ist in Deutschland ebenso unbeliebt wie zäh. Für beides gibt es gute Gründe. Unbeliebt ist er, weil die Geschichte des deutschen Konservatismus alles in allem nicht glücklich war. Gerade darum aber hält sich der Begriff hartnäckig in der politischen Diskussion.

Anders als in Großbritannien versteht es sich in Deutschland nicht von selbst, konservativ zu sein. Denn nach der Gründung des Kaiserreichs im Jahr 1871 gerieten die deutschen Konservativen mehrheitlich auf den Weg einer zunehmenden Radikalisierung. Die 1876 ins Leben gerufene Deutschkonservative Partei öffnete sich mehr und mehr dem integralen Nationalismus, der völkischen Bewegung und dem Antisemitismus. Von dort führt eine Linie zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), die 1933 Hitler zur Macht verhalf.

Neben dieser radikalen Strömung gab es jedoch auch einen gemäßigten Konservatismus, der wenig beachtet wird, weil er die Haltung einer Minderheit war. Aber die Bedeutung eines historischen Phänomens hängt nicht allein vom Erfolg ab.

Wer auf den Konservatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zurückblickt, sollte sich an die Sentenz des römischen Dichters Lukan erinnern, dass die siegreiche Sache zwar den Göttern, also dem Schicksal, gefiel, die besiegte aber dem Idealisten Cato, der statt der Alleinherrschaft die republikanische Verfassung verteidigte. Repräsentantin der unterlegenen Seite war im Kaiserreich die Deutsche Reichspartei, die in Preußen Freikonservative Partei hieß. Sie verstand sich als »konstitutionelle Mittelpartei«, wobei »freikonservativ« ein Synonym für »liberal-konservativ« war.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte diese kleine Honoratiorenpartei ihren Höhepunkt schon überschritten und stellte nur noch wenige Abgeordnete im Reichstag. Trotz ihres Niedergangs war sie in den letzten Jahren des Kaiserreichs in intellektueller Hinsicht der Kristallisationspunkt eines konservativen Aufbruchs.

Zu liberal-konservativen Vordenkern der älteren Generation gesellte sich 1912 mit Adolf Grabowsky der originellste Kopf des deutschen Konservatismus dieser Jahre. 1880 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin geboren, konvertierte der Jurist Grabowsky zum Protestantismus und versuchte sein Glück zunächst in der Deutschkonservativen Partei.

Konzept des »Kulturkonservatismus«

Als Publizist stellte er im Jahr 1911 in der konservativen »Kreuzzeitung« sein Konzept eines »Kulturkonservatismus« vor, den er an anderer Stelle auch als »fortschrittlichen Konservatismus« bezeichnete. Der schwärmerisch-pathetische Begriff des Kulturkonservatismus ist der allgemeinen Stimmung des wilhelminischen Fin de Siècle, dem Streben nach dem »Kulturstaat« geschuldet.

Was Grabowsky damit sagen wollte, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Es lag ihm fern, einem konservativen Kulturbegriff das Wort zu reden. Der Kulturkonservatismus sollte vielmehr die Grundlage einer »Partei der Gebildeten« sein, Anknüpfungspunkt für die deutsche Intelligenz. Millionen von Wähler, glaubte Grabowsky, die Deutschland in Handel, Industrie, Kunst, Wissenschaft und Technik vorantrieben und der modernen, städtischen Kultur verbunden waren, suchten im Lager der Konservativen nach einer Partei, die sie vor dem »Demokratismus« von links schützen könne.

Die Konservativen aber verschreckten diese Eliten, weil sie sich von einem egoistischen Agrariertum dominieren ließen. Der ostelbische Junker sei von großer Bedeutung für das deutsche Volk, aber er dürfe nicht für das Ganze stehen, ebenso wenig wie der von der Sozialdemokratie zum Maßstab erhobene Arbeiter.

Der Kulturkonservatismus war somit ebenso antidemokratisch wie fortschrittlich, ebenso aristokratisch wie liberal. Dem »echten Konservativen«, meinte Grabow­sky, sei die »Aristokratie des persönlichen Verdienstes« mehr wert als die »Aristokratie der Geburt«. Man sieht hier die Brücke, die er zwischen seinem Kulturkonservatismus und dem Liberalismus schlug.

Grabowsky glaubte, die deutschen Juden seien von Natur aus Konservative.

Grabowskys Begriffe sind in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Mal schrieb er, der »wirkliche Liberalismus« finde nur noch bei den Konservativen Verständnis; ein anderes Mal, dass »gemäßigte Konservative« und »wirkliche Liberale« Bundesgenossen seien, weil beide auch Elemente des jeweils anderen in sich trügen. Letztlich verwischte er die Grenze zwischen Konservatismus und Liberalismus, weil er keinen Sinn mehr in ihr sah.

Mit diesen Thesen stieß er bei den Deutschkonservativen durchaus nicht auf Zustimmung. Sie wollten agrarisch und religiös orthodox bleiben, vor allem aber störten sie sich an einem anderen Aspekt seines Kulturkonservatismus, an der Verurteilung des Antisemitismus. Schon 1911, als die Idee des Kulturkonservatismus noch nicht lange in der Welt war, sah sich Grabowsky genötigt, in dem Aufsatz »Kulturkonservatismus und Antisemitismus« mit einem Missverständnis aufzuräumen.

Da die Juden aus Sicht der Antisemiten nichts zur deutschen Kultur beigetragen hatten und auch nicht konnten, sahen diese in der Verbindung der Begriffe Kultur und Konservatismus ein Bekenntnis zum Antisemitismus. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall.

»Das Judentum, genauer: das deutsche Judentum«, schrieb Grabowsky, gehöre »aufs engste zur deutschen Kultur«. Und er fügte hinzu, dass »der germanische Deutsche seine Kultur berauben würde, falls er das jüdische Element ausschaltet«. Den Antisemiten warf er vor, das Judentum durch ihre »wahnsinnige Hetze« in die Radikalisierung zu treiben, in die Arme des Linksliberalismus und der Sozialdemokratie.

»Symbiose zwischen Deutschtum und Judentum«

Als Spross einer jüdischen Familie, der weder für den Zionismus noch die Assimilation eintrat, sondern für die »Symbiose zwischen Deutschtum und Judentum«, glaubte Grabowsky, dass die deutschen Juden von Natur aus Konservative seien. Noch 1932 schrieb er in einem Lehrbuch über die Politik: »Wäre das Judentum nicht so überaus konservativ, so wäre es längst von der Erde verschwunden.« Das Judentum war für ihn ein natürliches Reservoir für den deutschen Konservatismus. Auch deshalb hielt er es für »eine der Hauptsünden des deutschen Konservatismus, dass er antisemitisch gerichtet ist«.

Es war folgerichtig, dass er 1912 das Angebot annahm, zur Freikonservativen Partei zu wechseln, deren Programmatik frei von Antisemitismus war. Unter ihrer Ägide gab Grabowsky von 1912 an die Zeitung »Das neue Deutschland« heraus, die den bezeichnenden Untertitel »Wochenschrift für konservativen Fortschritt« trug. In ihren Spalten trat er weiter für seinen Kulturkonservatismus ein, von dem ausgehend er sich schließlich für die Demokratie öffnete.

1917 warb er dafür, in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht durch ein Pluralwahlrecht zu ersetzen und das Herrenhaus so zu reformieren, dass in ihm »wirklich die deutschen Führernaturen aus allen Lebensbereichen« vereinigt wären.

Damit hätte Preußen einen großen Schritt Richtung Demokratie gemacht. Das war ganz im Sinne der Tory-Demokratie des von Grabowsky bewunderten Benjamin Disraeli, in dessen Geist er schrieb, es sei »gerade die Aufgabe der konservativen Parteien, zu Zeiten das Notwendige zu gewähren, damit nicht später das Radikale eingeräumt werden muss«. Grabow­sky war nicht nur ein gemäßigter, sondern auch ein lernender Konservativer.

Er konvertierte zum Protestantismus und emigrierte 1934 in die Schweiz.

Nachdem die Monarchie 1918 zu Ende gegangen war, wandelte er sich zum Vernunftrepublikaner. Nach den Röhm-Morden von 1934 wusste er, was die Stunde geschlagen hatte – zumal er in der nationalsozialistischen Ideologie als »Volljude« galt –, und emigrierte in die Schweiz. In Basel leitete er bis 1940 ein Forschungs­ins­titut und verdiente seinen Lebensunterhalt anschließend als freier Autor. Nach 1950 lehrte er Politische Wissenschaft an den Universitäten Marburg und Gießen. Um die Rente, die ihm als ehemaliger Dozent der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und als Berater des Auswärtigen Amtes zustand, musste er lange kämpfen.

Heute bleibt von Grabowsky, der 1969 im Kanton Basel starb, vor allem sein Bemühen um einen gemäßigten Konservatismus, mit dem er gegen einen mächtigen Strom schwamm. Er hat nicht nur gezeigt, dass Konservatismus und Fortschritt keine Gegensätze sein müssen, sondern auch, welches Potenzial ein gemäßigter Konservatismus hat. Alle Formen des Konservatismus, die nicht eine gewisse Offenheit für den Liberalismus zeigten, waren für ihn »Pseudokonservatismus«.

In der frühen Bundesrepublik haben liberale Konservative Inspiration in Großbritannien gesucht. Das war richtig und gut, aber es ist nicht verkehrt, auch das gemäßigt-konservative Potenzial der deutschen Geschichte in den Blick zu nehmen – so klein es gewesen sein mag. Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Adolf Grabow­sky sollte dabei nicht übersehen werden.

Der Autor ist Historiker, stellvertretender Leiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Leiter Zeitgeschichte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

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