Biografie

»Wirklich etwas Neues bewegen«

Der Zentralratspräsident über seine Motivation für das Amt und Warnungen seiner Familie. Auszug aus dem neu erschienenen Buch »Nachgeboren – Vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland«

von Dieter Graumann  10.10.2012 16:51 Uhr

Dieter Graumann Foto: Das Portrait

Der Zentralratspräsident über seine Motivation für das Amt und Warnungen seiner Familie. Auszug aus dem neu erschienenen Buch »Nachgeboren – Vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland«

von Dieter Graumann  10.10.2012 16:51 Uhr

Am 28. November 2010 wurde ich zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt. Schon Monate vorher lief alles darauf hinaus, als es aber dann so weit war, musste ich kräftig Luft holen. Denn damit war ursprünglich nicht unbedingt zu rechnen gewesen. Es waren nun, als ich gewählt wurde, gut 15 Jahre vergangen, seitdem ich mich in die »jüdische Politik« begeben habe. Und das Ziel, Zentralratspräsident zu werden, konnte ich wirklich nicht von vorneherein im Auge haben.

zufälle Auch wenn Ignatz Bubis, der mich überhaupt erst in die Politik brachte, gelegentlich sagte, ich würde sicher einmal einer seiner Nachfolger, und mir Paul Spiegel, mit dem ich glänzend zusammenarbeitete, dies häufig prophezeite, und auch Charlotte Knobloch, die starke Frau des Zentralrats, mir Ähnliches voraussagte – ich selbst nahm dies niemals wirklich ernst. Wusste ich doch: Wir Juden sind zwar das Volk der Propheten, sind es aber selbst nicht wirklich. Sogar oft ganz im Gegenteil!

Als ich im Juni 2006 zum Vizepräsidenten des Zentralrats gewählt wurde, hatte ich mir fest vorgenommen: Bis hierhin und nicht weiter. Nicht, dass ich die Arbeit und Verantwortung dieses Amtes jemals gefürchtet hätte: Mit beidem habe ich in meinem Leben noch niemals Probleme gehabt. Wohl aber scheute ich die erhebliche Beschränkung an persönlicher Freiheit, die mit diesem Amt wegen der diversen Sicherheitsaspekte verbunden ist.

Schließlich aber bin ich doch Präsident geworden. »Gott lacht über unsere Pläne«, heißt es. Und am Ende waren es zahlreiche Weggabelungen, die auch vielfach ganz anders hätten verlaufen können, nicht wenige Wege und Nebenwege gab es, Fälle und Zufälle, Irrungen und Wirrungen, die mich in ein Amt brachten, das ich so viele Jahre aus nächster Nähe gesehen, aber auch gerade deshalb niemals angesteuert hatte. (...)

Von Anfang an nahm ich mir fest vor, nicht nur einfach Präsident sein zu wollen, sondern dabei wirklich etwas Neues zu bewegen. Denn ich spürte: Die jüdische Gemeinschaft hier verträgt und braucht eine Brise frischen Wind. Das soll gewiss kein tobender Taifun sein. Aber doch die möglichst geglückte Kombination und Komposition von Kontinuität und Wandel, von seriöser Fortführung und von frischer Fantasie.

»Nachgeboren« bin ich selbst mit Sicherheit in kalendarischem Sinn: nach der Shoah geboren. Das lässt sich schwer leugnen. Und »vorbelastet« bin ich ganz gewiss auch. Denn, wie alle meine Freunde und Schicksalsgenossen der zweiten Generation, trage ich in mir für alle Zeit die Traumatisierungen, die unsere Eltern, gequält an Leib und Seele, von der Shoah davongetragen haben. (...)

traumata So sehr mein erfolgreicher »politischer Aufstieg« vielleicht Grund zur Freude gewesen wäre, so war eigentlich meine ganze Arbeit, mein ganzes Engagement in der jüdischen Gemeinde und im Zentralrat immer etwas, was meine Eltern niemals auch nur ansatzweise jemals billigen und verstehen konnten. Sie hatten und haben immer noch Angst um ihren jüdischen David. Das ist nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen KZ-Erfahrung heraus zu verstehen: Meine Eltern haben verinnerlicht, dass man als Jude unauffällig sein soll. Sie sind selbst durch viele demütigende und dramatische Selektionen gegangen. Ihre Erkenntnis von damals ist, dass diejenigen, die dabei besonders auffielen, die Ersten waren, die in die Transportzüge nach Auschwitz verladen wurden. (...)

Bis zum sechsten Lebensjahr hieß ich »David« – ich wurde in Israel geboren und kam mit 18 Monaten nach Deutschland. Nach Israel waren meine Eltern nach dem Krieg emigriert, sie wollten nicht im »Land der Täter« leben. Doch mein Vater, gesundheitlich schwer angeschlagen durch die verschiedenen Konzentrationslager, die er erleiden musste, vertrug das heiße, schwüle Klima in Israel überhaupt nicht.

Also zogen meine Eltern weiter, immer noch auf der Suche nach dem neuen Zuhause für ihr wieder zurückgewonnenes Leben. Auf ihrem israelischen Pass stand »Prat Germania« – überall gültig, außer in Deutschland. So kamen wir zuerst nach Frankreich, und später erhielten meine Eltern auch die begehrte Greencard für die Vereinigten Staaten. Doch wie so oft im Leben sorgt das Zusammenspiel von Zufällen und Gegebenheiten dafür, dass man von seinem »Plan« abweichen, ihn verschieben oder am Ende sogar verwerfen muss. Meine Eltern wandten sich dann doch Deutschland zu. Sie dachten, es sei nur kurz, vorerst und vorläufig. (....) So sind meine Eltern und ich am Ende also in Deutschland »hängen geblieben«. Immer saßen meine Eltern hier auf den inzwischen sprichwörtlich gewordenen »gepackten Koffern«, für sie war es ein immerzu gefühltes »Provisorium«. Doch aus unserer langen jüdischen Geschichte wissen wir: Selten gibt es etwas Dauerhafteres im Leben als ein Provisorium. Wir waren in Deutschland. Und meine Eltern und ihre Freunde lebten hier fortwährend mit zerrissenen Herzen und mit verwundeten Seelen.

familienrat Ich erinnere mich noch ganz genau: Als ich wusste, dass meine Kandidatur für die Präsidentschaft im Zentralrat in den nächsten Tagen in die Presse kommen würde, hielt ich es für besser, es ihnen selbst zu sagen. Der Tag, an dem ich meine Eltern besucht habe, um ihnen das beizubringen, war für mich wirklich traumatisch. Meine Kinder und meine Frau waren »zur Verstärkung« mitgekommen, als ich meinen Eltern ankündigte: »Jetzt bin ich Ende fünfzig, eigentlich muss ich doch auch einmal machen können, was ich selbst will. Das wird jetzt einmal Zeit.«

Das war ein sehr berührender und dramatischer Moment. Mein Vater hat mit sehr drastischen Worten versucht, mich umzustimmen. Er war entsetzt, er war schockiert, er hat sogar geweint. Das Herz zersprang mir dabei fast. Ich werde diesen Moment niemals vergessen. Es widersprach schließlich so sehr meiner Grunderfahrung und auch meinem eigenen Grundbedürfnis, dass ich meine Eltern immerzu behüten und mich um sie kümmern muss. Weil ich wusste, dass ich meinen Eltern in diesem Fall besonders wehtat, schmerzte es mich selbst umso mehr – bis heute trage ich dieses peinigende Gefühl in mir.

Auch meine Frau und meine Kinder sind bis heute keine übermäßig großen Fans dessen, was ich tue. In meinem sehr überschaubaren Fanclub ist meine Familie definitiv nicht zu finden. Aber sie trägt mein Engagement nach dem Motto: »Wenn du es denn unbedingt willst, dann mache es halt.« Ertragen ist auch eine Form von Tragen. Meine kritische und lebenskluge Tochter hält mir in gewohnter Deutlichkeit vor: »Behaupte bitte nicht, dass du das für uns tust. Das machst du nur für dich, weil es für dich wichtig ist, weil du dich damit verwirklichen kannst.« Ihre Skepsis hängt natürlich auch mit einer gewissen Gefährdung zusammen, die das Amt mit sich bringt, und auch damit, dass ich weniger freie Zeit habe. Ich erkläre ihr: »In meinem Alter ist das mein letztes großes Abenteuer, ich muss es tun.« Als politischer Mensch, der ich immer war, ist das meine ureigene Möglichkeit, mich politisch auszuleben und etwas Positives zu bewirken in der Richtung, die mir nun einmal ganz besonders am Herzen liegt: dafür zu sorgen, dass die Kette des Judentums, die auf dem Berg Sinai entstand, weitergeknüpft wird, und heute eine positive und sichere Zukunft für die jüdischen Menschen hierzulande wieder ganz neu zu erkämpfen – das ist mein Wunsch, das ist meine Motivation, das treibt mich an.

Es ist meine Chance, etwas Sinnvolles zu tun. Und am Ende, so meine ich, ist im Leben der Sinn denn doch noch wichtiger als das schiere Glück.

»Nachgeboren – Vorbelastet?«
ist soeben im Kösel-Verlag München erschienen
(224 S., 19,99 €).

Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

Lesungstermine:
Dienstag, 16. Oktober, 19 Uhr, Jüdisches Museum München
Mittwoch, 17. Oktober, 19.30 Uhr, Jüdisches Museum Berlin
Mittwoch, 31. Oktober, 19.30 Uhr, Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum, Frankfurt/Main

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