Frau Heller, Sie stehen in Ungarn seit Wochen unter Beschuss. Fachkollegen denunzieren Sie als kriminell.
Es gibt in jedem Beruf neidische und eifersüchtige Menschen, auch in der Philosophie. Es gibt Philosophen, die dem Beispiel Sokrates’ folgen, das sind kritische Denker, die man heutzutage »liberal« nennt, was in Ungarn auch als Schimpfwort gebraucht wird. Dann gibt es Philosophen, die sich lediglich mit ihrem Fach beschäftigen – und ein paar andere, die glauben, unterdrückt zu sein und einen Kampf gegen erfolgreichere Kollegen führen zu müssen. Diese Leute haben die politische Karte gespielt und uns beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben. Das hätte zu keinem Ergebnis geführt, wenn die regierende Partei, die sowieso einen Angriff gegen kritische Intellektuelle starten wollte, dies nicht benutzt hätte. Eine offensichtlich politische Kampagne gegen »liberale Philosophen« wird als Kampf gegen die Kriminalität hingestellt, mit Schlagzeilen wie »Die Heller und ihre Bande haben eine halbe Milliarde verforscht«. Ich habe von diesem Geld keinen Cent genommen, aber ich werde als Diebin, als Betrügerin hingestellt. Mein Name wird beschmutzt. Und viele Menschen glauben, was man ihnen vorsetzt: Wer liberal ist und Linke verteidigt, der stiehlt, betrügt und lügt auch. Hätte ich im 16. Jahrhundert gelebt, hätte man mich der Hexerei beschuldigt und wahrscheinlich verbrannt.
Warum glauben die Menschen das?
Zum Teil, weil sie Angst haben. Viele haben in Ungarn Angst. Sie fürchten, ihre Arbeit zu verlieren oder nicht befördert zu werden. Im Grunde gibt es jetzt einen Frontalangriff gegen die führende ungarische Intelligenz. Man wechselt Theaterdirektoren, den Operndirektor, die Leiter von einigen akademischen Instituten, sogar der Direktor des Meteorologischen Instituts wurde entlassen und die Subvention des Festivalorchesters um die Hälfte gekürzt.
Wie sieht es in den Medien aus?
Journalisten, Moderatoren und Redakteure werden ersetzt. Nehmen wir MTV1, den staatlichen TV-Kanal, der offiziell unabhängig und neutral berichten sollte. Doch von früh bis spät kommen da Fideszparolen, manche fast noch rechtsextremer als auf anderen Kanälen. Linke und Liberale haben kein Fernsehorgan. ATV, der einzige Fernsehsender, der objektiv und ausgewogen berichtet, gehört der christlichen Pfingstgemeinde.
Sind von der Säuberung nur Linke und Liberale betroffen?
Es gibt in Ungarn anständige konservative Intellektuelle. Die haben es nicht nötig, bei solchen Kampagnen mitzumachen. Auch die werden abgesetzt. Man will an ihre Stelle Leute setzen, die ganz von der Regierung abhängen. Wer selbstständig denkt, wer einen Namen hat, der hat die Möglichkeit, eine eigene Meinung zu artikulieren. Die Regierung möchte Leute, die sie an der Leine halten kann. Genauso haben es die Kommunisten unter Rákosi in der Stalinära gemacht. Sie haben Intellektuelle herausgeworfen und durch ihre Leute ersetzt. György Aczél, Kádars Kulturchef, war schon gescheiter, er hatte ein Gefühl für Qualität. Er hat Intellektuellen geschmeichelt, hat viele gekauft. Aber die jetzige Regierung hat keine Ahnung von Qualität, und so sieht auch ihre Personalpolitik aus.
In der Bevölkerung scheint die Regierung Orbán aber populär zu sein.
Viele Ungarn sehen in Orbán eine Vaterfigur, dieschon weiß, was gut für uns ist. In den zwanzig Jahren nach der Wende haben die meisten die demokratischen Freiheiten nicht schätzen gelernt. Wir haben eine Mittelklasse, aber leider fast keine Citoyens.
Sprechen wir von Ihnen. Sie haben als Assistentin des legendären marxistischen Philosophen Georg Lukáqcs angefangen. Wann haben Sie aufgehört zu glauben, dass der Marxismus in Ungarn irgendetwas lösen kann?
Schon 1956 war ich vom Kommunismus in Ungarn enttäuscht. Allerdings dachte ich, das sei nicht der wirkliche Marxismus. Ich fing an, den jungen Marx zu lesen und einen sehr utopischen Marxismus, eine Gesellschaft frei von Entfremdung, anzustreben, so wie in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern konzipiert. Aber schon damals habe ich Marx’ grundlegende Thesen nicht akzeptiert.
Welche?
Die führende Rolle des Proletariats und die Entwicklung der Produktivkräfte als Bewegkraft der Geschichte. Für mich war Marx das Versprechen auf eine Gesellschaft ohne Entfremdung. Mein Marxismus war eine Art materialistischer Messianismus. 1968 hat dem ein Ende bereitet, als klar wurde, dass der Sozialismus als solcher nicht reformiert werden kann. Ich begann dann, die große Narrative aufzugeben, die Vorstellung, dass es eine Weltgeschichte mit einer konstanten Entwicklung gibt vom Primitiven zum Entwickelten, mit Rückfällen zwar, aber in Richtung einer glücklichen und gerechten Zukunft. Ich konnte nicht akzeptieren, dass das 20. Jahrhundert mit dem Gulag und dem Holocaust eine positive Entwicklung sei gegenüber dem 19. Jahrhundert. Es ist pervers, an eine solche universelle Progression zu glauben.
Ist Marx für Sie gestorben?
Ich bin keine Antimarxistin, habe aber damals alle Ismen aufgegeben, auch den Marxismus. Ismus bedeutet, ein Paket zu kaufen und all das, was drin steckt, zu akzeptieren. Aber ich verehre Karl Marx. Er ist einer der großen radikalen Denker des 19. Jahrhunderts und deswegen habe ich ihn genauso wie Kierkegaard und Nietzsche, an der Universität gelehrt. Auch Sigmund Freud gehört dazu. Das waren die großen radikalen Denker, und es ist wichtig zu verstehen, was sie sagten.
Womit beschäftigen Sie sich aktuell?
In den letzten Jahren bin ich zu Kunst und Religion zurückgekehrt. Ich habe Bücher über Shakespeare, über die Komödie und über die Schönheit verfasst, mich mit der Genesis und Samson befasst. Jetzt schreibe ich ein Buch über Träume. Das erste Kapitel ist der Bibel gewidmet.
Das Gespräch führte Karl Pfeifer.
Agnes Heller kam 1929 in Budapest zur Welt. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet, sie selbst konnte mit ihrer Mutter der Schoa knapp entkommen. Heller studierte Philosophie bei Georg Lukács, dessen Assistentin sie wurde. In den 60er-Jahren gehörte sie zu den Köpfen der kritischen »Budapester Schule« und geriet immer wieder in Konflikt mit den regierenden Kommunisten. 1977 musste Agnes Heller emigrieren. Sie lehrte in Australien und in den USA. Für ihr Werk wurde die Philosophin unter anderem mit der Goethe-Medaille und dem Bremer Hannah-Ahrendt-Preis geehrt.