Herr Marianowicz, Rückenschmerzen gelten mittlerweile als Volkskrankheit in Deutschland. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch?
Das Grundproblem ist, dass wir auf Bilder starren, die eine relativ geringe Korrelation mit den daraus entstehenden Beschwerden haben. Das heißt, es gibt große Veränderungen, die im Kernspin oder CT sichtbar sind, die aber keine Beschwerden machen, und umgekehrt. Heißt: Ohne Schmerz ist man bei schlechten Bildern nicht automatisch krank. Und mit Schmerz ist man bei guten Bildern auch nicht automatisch gesund. Wir haben Kernspintomografen wie kein anderes Land auf der Welt, was für bestimmte Krankheiten segensreich ist, aber für den Rücken ist es eine Katastrophe. Diese reine Fixierung auf Bilder ist ein fataler Fehler bei dem Versuch, eines der größten Probleme unserer Gesellschaft – und es sind nun mal die Rückenschmerzen – zu behandeln.
Welchen Ansatz verfolgen Sie als Arzt?
Ich schaue mir Bilder erst an, wenn ich gehört habe, worunter ein Patient leidet. Gerade bei älteren Patienten finde ich ja viele Befunde, aber woher soll ich am Bild erkennen, was das Ursächliche ist? Das geht ja gar nicht. Bei mir haben Patienten bei der ersten Vorstellung 30 Minuten Zeit zu erzählen, worunter sie leiden. Zudem wurden ungefähr 60 Prozent meiner Patienten, die für eine Zweitmeinung kommen, weil sie eine OP-Indikation bekommen haben, noch nie ausgezogen. Ich schaue sie mir genau an, es ist wie ein Mosaik und Schmerz etwas sehr Komplexes.
Wann sollte ein Arzt aufgesucht werden?
Da fehlt ja auch die Aufklärung. Es ist so: In einem Zeitraum zwischen sechs bis zwölf Wochen verschwinden etwa 80 Prozent aller Rückenschmerzen von selbst, ganz gleich welcher Provenienz. Der eine geht zur Massage, jemand anderes zur Physio, der Dritte geht sich akupunktieren und der Vierte legt sich in irgendein Schlammbad. Der Körper hat eine unheimlich starke Tendenz, sich zu heilen. Das heißt, zum Arzt geht der, der trotz helfender Therapien nach sechs Wochen keine Besserung hat.
Was könnte denn Ihrer Meinung nach die häufigste Ursache von Rückenschmerzen sein?
Es kann der Rücken sein, muss es aber nicht, denn wir wissen ja, dass bei vielen gar keine Befunde da sind. Die Ursache variiert von einer falschen Haltung bis zu einem gestressten Leben, einer Überforderung, Unzufriedenheit, kein Spaß am Beruf, Mangel an Bewegung. Und was immer dabei ist, ist das Gehirn. Ohne Gehirn gibt es keinen Schmerz. In unserem System endet der Mensch leider meist am Hals. Da ist es nicht verwunderlich, dass von den Menschen, die in Rückenbehandlungen sind und operativ behandelt werden, 50 Prozent innerhalb des ersten halben Jahres wieder in die Therapie zurückkehren. Damit produzieren wir den größten Anteil von Ausgaben in unserem Gesundheitssystem.
Sind Rückenprobleme wirklich so teuer?
Es geht ja nicht nur um sinnlose Behandlungen. Es geht ja weiter mit Arbeitsunfähigkeitszeiten und Berentungen. Es kostet uns unheimlich viel Geld. Es ist überhaupt keine Zeit mehr da, mit den Menschen zu sprechen und sie gründlich zu untersuchen. Es werden Bilder produziert, und aufgrund dieser wird eine am Problem vorbeigehende Übertherapie durchgeführt, die in Deutschland leider zu häufig operativ ist, weil das Vergütungssystem dies einfach fördert. Wir operieren etwa viermal so viel Rücken wie die Engländer, zirka achtmal so viel wie die Italiener und ungefähr dreimal so viel wie die Franzosen. Wir sind Weltmeister im Operieren.
Wie viel lukrativer ist denn eine Operation? Machen Sie es mal konkret.
Ein Kassenarzt, der konservativ therapiert, kriegt für einen Patienten mit einem Bandscheibenvorfall 40 bis 50 Euro – für drei Monate Behandlung. Eine Rückenoperation kostet im Durchschnitt in etwa 6000 Euro, also 30 konservative Behandlungsjahre. Das muss man sich mal vorstellen.
Das heißt, die meisten operativen Eingriffe am Rücken wären überhaupt nicht nötig?
Es gibt Studien von der Techniker Krankenkasse und der Schwäbisch Gmünder, die zu dem Ergebnis kamen, dass etwa 80 Prozent der Rückenoperationen übertherapiert sind. Außerdem heilen ungefähr 90 Prozent der Bandscheibenvorfälle konservativ ab. Das ist eine Frage, die ich schon in meinem Staatsexamen beantwortet habe.
Man hört es schon raus – das Problem ist das Gesundheitssystem?
Wir geben in unserem Gesundheitssystem gerade mal rund vier Prozent des Geldes für Prävention aus. Das wird unser System auf Dauer nicht tragen können, wir sind ja jetzt schon das teuerste Gesundheitssystem in den westeuropäischen Ländern, mit gleichzeitig der geringsten Lebenserwartung. Die Skandinavier zum Beispiel haben unheimlich viel in Aufklärungsprogramme gesteckt und konnten die Kosten dadurch extrem senken.
Deutschland sollte es ihnen also nachmachen?
Ja. Ich würde deutlich mehr präventive Maßnahmen aus den Krankenkassen heraus finanzieren. Das wäre zum Beispiel Training und Aufklärung. Die Leute denken immer noch, es sei das Beste, sich mit Rückenschmerzen zwei Wochen ins Bett zu legen. Wir können nicht warten, bis die Leute mit einem Bandscheibenvorfall im OP-Saal liegen, wo sie dann plötzlich Tausende Euros kosten.
Ecken Sie mit dieser Haltung unter Kollegen auch an?
Nein, gar nicht, weil der Großteil der Ärzte weiß ja, dass es stimmt. Aber die Operateure sind sicher nicht so gut auf mich zu sprechen.
Mit dem Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin, Schmerz- und Chirotherapie sprach Lilly Wolter.