Frau Esser, Sie werden in den kommenden fünf Jahren erforschen, wie viel Antisemitismus, Sexismus und Rassismus in der klassischen deutschen Philosophie steckt. Wie kam es zu dem Projekt?
Die Anschläge von Halle und Hanau sowie die Black-Lives-Matter-Bewegung – das waren politische Ereignisse, die Fragen nach Antisemitismus, Sexismus und Rassismus auch in der Philosophie wachgerufen haben. Wir hatten den Eindruck, dass die Dis-
kussion innerhalb der Philosophie eine problematische Wendung nimmt, auch in der Öffentlichkeit. Denn die erste Frage, die immer gestellt wurde, lautete: Waren Kant, Hegel, Fichte und andere Antisemiten, Rassisten, Sexisten? Aber schon diese Frage ist nicht ganz unproblematisch, weil sie die Auseinandersetzung von vorneherein auf Personen verengt und letztlich darauf abzielt, mit einer schlichten Ja-Nein-Antwort abzuschließen. Das Problem ist viel zu komplex, als dass man es so bearbeiten könnte. Denn was wäre eigentlich mit so einer historischen Erkenntnis für uns gewonnen? Unser Projekt soll zeigen, dass wir andere Fragen stellen müssen: wie umgehen mit Antisemitismus, Rassismus und Sexismus in klassischen Werken der Philosophie? Dabei ist uns besonders die politische Dimension wichtig.
Warum braucht es den politischen Blick?
Wir begreifen Antisemitismus, Rassismus und Sexismus als überindividuelle Phänomene, die über die Zeiten hinweg bis in unsere Gegenwart hineinreichen. Ohne die politische Dimension würde man diese Phänomene als ein individuelles Problem verstehen. Als die Verfehlung einzelner Individuen. Das Politische muss aber auch deshalb thematisiert werden, weil wir als akademische Philosophie auch Teil des politischen Geschehens sind und nicht außerhalb stehen.
Damit ecken Sie in Ihrer Forschungs-Community sicher an, oder?
Gewiss, es ist ja ein politisches Projekt. So etwas ist immer umstritten, und die Themen sind umkämpft. Aber wir glauben, dass es wichtig ist, dass sich die Philosophie ihren Verstrickungen stellt. Wir sind Teil der Gesellschaft, aber schreiben uns doch auf die Fahnen, eine kritische Wissenschaft zu sein. Wir müssen uns als Teil dieser antisemitischen, rassistischen und sexistischen Tradition begreifen und das – wie wir sagen würden – problematische Selbstverständnis, dass die Philosophie gänzlich »sauber« ist und ihre Erkenntnisse völlig von gesellschaftlichen und historischen Einflüssen getrennt werden können, infrage stellen.
Mit welchen Fragen werden Sie welche Philosophen untersuchen?
Aufgrund unseres Standortes haben wir uns für die klassische deutsche Philosophie mit einem Jena-Schwerpunkt entschieden. Wir gehen aber von Immanuel Kant aus, der nicht in Jena war. Der Kant-Bezug bei der klassischen deutschen Philosophie – Hegel, Schelling, Fichte – ist ganz deutlich, viele beziehen sich auf ihn. Hier wollen wir genauer hinschauen und versuchen, die problematischen Textstellen zu sammeln, zu kommentieren und den Bezug auf den Forschungsstand zu vermitteln. Wir dürfen nicht meinen, dass wir jetzt für alle Zeiten beschließen könnten, was man noch lesen darf oder nicht. Wir können nicht sicher sein, dass wir völlig »aufgeklärt« und vorurteilsfrei sind, sondern müssen uns auch der Kritik künftiger Generationen aussetzen.
Immanuel Kant gilt als der große Aufklärer und Urvater des Grundgesetzes, weil er sich viel mit der menschlichen Würde befasste. Andererseits hat er auch mit Rassentheorien geliebäugelt und sie reproduziert. Wie kann man mit dieser Ambivalenz umgehen?
Es gibt verschiedene Wege, mit dieser Ambivalenz umzugehen. Man kann sagen: Ja, Kant stand eben in seiner Zeit, die Rassentheorien blenden wir jetzt aus. Das wäre eine einfache Form, Ambivalenzen aufzulösen. Wir denken aber: Das ist keine gute Idee, und zwar deshalb nicht, weil die Texte mit ihren antisemitischen, rassistischen und sexistischen Aussagen heute noch wirken. Und sie können jederzeit instrumentalisiert werden. Zur Legitimation, zur Stützung von Ideologien. Allein deshalb lässt sich die Ambivalenz nicht überwinden, indem wir sagen: Das war eine andere Zeit. Wir meinen: Ja, die Werke dieser Philosophen sind ambivalent. Wie die Personen selbst einzuschätzen sind, interessiert uns dabei weniger. Wir fragen: Was ist in den Werken? Wir müssen verstehen, dass es den einen Kant gibt, der den Würdebegriff, die Gleichheit stark gemacht hat, den kritischen Kant. Und es gibt den Kant – in dem kritischen Kant – mit hochproblematischen Passagen, die übrigens nicht immer so trivial zu erkennen sind. Es ist manchmal sehr subtil. Damit müssen wir umgehen, statt zu streichen.
Kant beschrieb die Juden unter anderem als »Nation der Betrüger«, Herder nannte sie eine »parasitische Pflanze«. Jemand, der so etwas äußerte, muss doch als Antisemit benannt werden dürfen, oder nicht? Ist nicht gerade für die Betroffenen eine solche Klarheit wichtig?
Uns geht es nicht darum, dass solche Urteile nicht gefällt werden dürfen. Wir denken nur, dass es zu kurz greift. Was machen Sie nach diesem Urteil, auch als jemand, der betroffen ist? Die Frage stellt sich nach wie vor: Lese ich das alles nicht mehr? Es gibt natürlich auch durch und durch antisemitische Texte von Philosophen, die muss man, außer im wissenschaftlichen Kontext, in der Tat nicht rezipieren. Das ist dann nichts weiter als eine Hetzschrift. Aber in Texten, die durchsetzt sind, oft auch sehr subtil, muss man die Stellen erst einmal deutlich machen, sodass Leser sie erkennen. Gerade für Personen, die betroffen sind, ist es wichtig, dass es eine öffentliche Diskussion gibt.
Wir leben in einer Zeit, in der Ambivalenzen gefühlt immer weniger ausgehalten werden. Auf welche Form der Kommunikation wollen Sie setzen, damit ein solches Aushalten gelingen kann?
Ich empfinde Ihre Diagnose als völlig zutreffend: Extrempositionen werden leicht aufgenommen, sind aber immer unterkomplex. Wenn man fragt »War Kant ein Rassist?«, dann neigt man dazu, mit Ja oder Nein zu antworten, und das führt in eine völlig unterkomplexe Auseinandersetzung. Die Diskussion droht dadurch unproduktiv zu werden. Daher wollen wir auf experimentelle und kreative Formate der Vermittlung setzen, statt zu belehren. Wir wollen etablierte Denk- und Praxisformen des Philosophierens und des Diskutierens irritieren und hoffen so, ein angemessenes Problembewusstsein anzuregen. Dazu werden wir niederschwellig starten, mit Lückentexten zum Beispiel. Und wir wollen Unterrichtsmaterial für Schulen und die Lehrausbildung entwickeln, ebenso für Lehre und Forschung. Wir planen zudem Aktionen in Museen sowie Workshops an Instituten und möchten weitere Orte suchen, an denen die entsprechenden Fragen auftreten.
Wie und wo wirkt die klassische deutsche Philosophie denn nun konkret in der Gegenwart? Ist die documenta ein Beispiel?
Das wäre ein wenig zu unmittelbar zu sagen, die klassische deutsche Philosophie wirke bis in die documenta hinein. Ich würde aber sagen, dass sie mit ihren Texten ein Medium ist, in dem sich Stereotype und Motive ausdrücken, die in der antisemitischen Tradition immer wieder wachgerufen werden. Und die entsprechenden Bilder auf der documenta beinhalten eben auch Motive, die wir heute noch erkennen. Stereotype und Herabwürdigungen der antisemitischen Tradition werden so weiter am Leben erhalten. Das ist der Beleg, dass das alles kein vergangenes Phänomen ist. Deshalb müssen wir uns diesen Fragen stellen. Auch in der Philosophie.
Mit der Professorin für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sprach Lilly Wolter.