»Sie wissen um meine Dinge, haben sie bei sich, so habe ich Heimat«, schrieb Nelly Sachs (1891–1970) in einem ihrer ersten Briefe an Paul Celan (1920–1970). Der Briefwechsel zwischen den beiden Lyrikern erstreckte sich über fast 16 Jahre bis zu ihrem fast gleichzeitigen Tod. Celan brachte sich im April 1970 durch einen Sprung in die Seine um, Sachs starb einige Wochen später in Stockholm. In diesem Jahr begehen wir den 50. Todestag der beiden Dichter.
Celan und Sachs waren Opfer der NS-Judenverfolgung. Ihre Identität war durch einen traumatischen Bruch geprägt. Deutschland, ihre kulturelle Heimat, hatte ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie wurden zu heimatlosen Exilanten, die sich gezwungen sahen, in ihrem künstlerischen Schaffen weiterhin die deutsche Sprache zu benutzen, um weiterleben zu können.
Manche sehen in dem faszinierenden Briefwechsel zwischen den beiden ein Bündnis gegenseitiger Unterstützung und Stärkung und einen inspirierenden Raum der geistigen Begegnung, in dem sie ihr Leid in der gemeinsamen Sprache teilen konnten. In diesem Sinne schrieb Sachs 1959 an Celan: »Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes.« Andere sehen in der Korrespondenz und im lyrischen Werk beider Dichter vor allem die Schrecken der Verfolgung, die Qual der Einsamkeit, die Erfahrung der Fremdheit und des Leidens, die mit den Jahren immer stärker hervortrat.
MYSTIK Nelly Sachs wurde in Berlin als einzige Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren und genoss eine erstklassige Privaterziehung in einem geborgenen Rahmen. Ihre ersten Gedichte schrieb sie mit 17 Jahren. Sie waren vorwiegend in Sonettform gehalten und inhaltlich von neuromantischen Einflüssen geprägt, unterschieden sich aber in ihrem elegischen, melancholischen und eindringlichen Ton von der weiblichen Lyrik großbürgerlicher Kreise. In den 30er-Jahren stand das Leben der Dichterin im Zeichen des Schreckens und der Verfolgung. Die innere Spannung, die durch den täglichen Überlebenskampf erzeugt wurde, führte zu einer längeren Schaffenspause.
In jenen Jahren näherte sie sich jüdischen Quellen an, vertiefte sich in die Bibel, jüdische Mystik und chassidische Literatur. Im Mai 1940 gelang es Sachs, mit ihrer alten Mutter von Berlin nach Schweden zu fliehen. Die 50-jährige Sachs begann, Schwedisch zu lernen, weil sie dem Land, das sie vor dem Todeslager gerettet hatte, ihre Dankbarkeit zeigen wollte. Dazu kam, dass sie schwedische Lyrik ins Deutsche übersetzen und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Gleichzeitig begann Sachs, nach langen Jahren wieder Gedichte auf Deutsch zu schreiben. Sie versuchte, eine neue lyrische Ausdrucksform zu schaffen, die rein persönlich war und in keinen vorgegebenen Rahmen passte. Kennzeichnend für diese Lyrik war eine metaphysische Unruhe, ein Gefühl der Fremdheit und des Verfolgtseins, die Suche nach der nicht mehr existierenden Heimat und die Empathie mit den Leidenden – eine Lyrik des Schreckens und der Flucht. In diesen Gedichten begegnen wir immer wieder Worten wie Sand, Staub, Stern, Meer, Flucht, Schmetterling, Verwandlung – Worten von tiefer symbolischer Bedeutung, was vor allem im Zusammenhang mit jüdischen Quellen und jüdischer Mystik in Erscheinung tritt.
Nelly Sachs nahm die Bibel in ihr Werk auf und ließ in ihren Visionen die Propheten wiederaufleben, überwölbte ihre Lyrik mit den kosmischen Sphären des Sohar und tauchte in die Magie des hebräischen Alphabets ein. Ihr Werk war in der europäischen Klassik und den Klängen der deutschen Sprache verwurzelt, gleichzeitig dem Hebräischen und seinen Inhalten so sehr verhaftet, dass man behaupten könnte, es gebe keine hebräischere Dichtung als die ihre.
Sachs vertiefte sich in die Bibel und jüdische Mystik.
Die Begriffe, die Sachs aus jüdischen Quellen schöpfte, wurden auf dem Umweg über die von ihr thematisierten »Verwandlungen der Welt« übernommen und dem Deutschen einverleibt. Sie entleerte das Deutsche seines Inhalts und füllte das Vakuum mit abgehackten Sätzen ohne Reim und Rhythmus, mit Bruchstücken aus Bibelversen, Anklängen an Klagelieder und fremden Motiven von Verwandlung und Seelenwanderung. Ihre lyrische Landschaft wurde surrealistisch. Romantische Anklänge früher Jahre wurden in ihrer neuen, albtraumgequälten Welt zu Symbolen. Ihre visuelle Sprache war frei von expressionistischen Aspekten und beschränkte sich auf den engen, doch intensiv erlebten Raum ihres Lebens im Schatten der Verfolgung.
Öffentliche Anerkennung als Dichterin wurde ihr erst später, zu Beginn der 60er-Jahre, zuteil. Selbst nachdem sie zusammen mit Shai Agnon den Nobelpreis bekommen hatte, blieb sie bis zu einem gewissen Grad anonym. Sachs ließ sich weder vom Kult des Individualismus noch von den literarischen und intellektuellen Strömungen ihrer Zeit mitreißen. Sie schrieb im Namen der Gemeinschaft, im Namen ihres verfolgten Volkes, mit blutendem Herzen und sogar während langer Krankenhausaufenthalte bis zum Tag ihres Todes.
HEIMAT Obwohl der in Czernowitz geborene Paul Celan 30 Jahre jünger war als Sachs, entstand zwischen den beiden eine tiefe Beziehung, die im Zeichen des gemeinsamen Schicksals stand. Auch er war ein Einzelkind. Seine Eltern kamen in einem Zwangsarbeitslager um. Celan fing schon während seines Aufenthalts im Ghetto Czernowitz an, Gedichte zu schreiben. Nach dem Krieg lebte er in Bukarest, beschäftigte sich mit seinen jüdischen Ursprüngen und dem Chassidismus, ging nach Wien und landete schließlich in Paris. Doch auch Paris wurde ihm nicht zur Heimat. Obwohl er dort heiratete und Vater wurde, blieb er einsam, unstet und seelisch tief verletzt.
Celan war mit der deutschen Sprache aufgewachsen, doch für ihn wurde sie zur »Sprache der Mörder«. Er versuchte, auf Französisch zu schreiben. Als ihm das misslang, kehrte er zu seiner entweihten Muttersprache zurück. Celan schrieb, wie Sachs, bis zu seinem Tod unablässig über den Holocaust. Er griff auf frühe Schichten der deutschen Sprache und archaische Worte zurück, deren Wurzeln er in neuem Licht erscheinen ließ, und flocht gleichzeitig jüdische Begriffe (wie Kaddisch, Schibboleth, Hawdala, Hosianna, Tefillin) in seine Dichtung ein. In seiner berühmten »Todesfuge« schreibt er über die Margarete aus Goethes Faust und die biblische Sulamith aus dem Hohelied Salomons. Die »Schwarze Milch der Frühe« spiegelt den Dualismus wider, der seine Seele vergiftete und seine Identität einer unerträglichen Zerreißprobe aussetzte.
Celans Kampf mit seinen kulturellen und kreativen Quellen, die für immer befleckt wurden, führte dazu, dass er sich innerlich ausgelöscht fühlte. Es gelang ihm nicht, Trost im Glauben zu finden, wie er Sachs nach dem Züricher Treffen mit ihr schrieb: »Über deinen Gott wurde gesprochen / ich sprach gegen ihn …« Er blieb einsam, zornig und entwurzelt. In seiner Dichtung benutzte er das Deutsche nach seinem Gutdünken. Er schuf eigene Wortkombinationen, streute spanische, englische, lateinische und jiddische Worte ein und benutzte Satzbruchstücke, manchmal auch einzelne Silben. Es schien, als wollte er die Bedeutung seiner Lyrik verschleiern und den deutschen Lesern das Verständnis erschweren. Vielleicht wollte er sich auf diese Weise an der deutschen Sprache rächen, ihre Fundamente untergraben und ihre Gesetze aushebeln. Grammatik und Satzbau wurden sabotiert, neue Wortschöpfungen ersetzten Bekanntes. Die Entfremdung und Zerstückelung der deutschen Sprache reflektierte, was in seiner Seele vorging.
Im Zuge der Verschlechterung seines seelischen Zustands, die mehrmals zur Einweisung in psychiatrische Kliniken führte, wurde seine Lyrik zunehmend idiosynkratisch, hermetisch und unverständlich. Das Hebräische, das er als reinere Sprache und zu einem gewissen Grad als seine eigentliche Muttersprache empfand, nahm in seinen späten Gedichten einen breiteren Raum ein. Die hebräischen Wörter wurden ins Deutsche transkribiert, aber nicht erklärt, sodass der deutsche Leser sie zwar lesen, aber nicht verstehen konnte. In seiner Dichtung hinterließ Celan als Überlebender ein einzigartiges Zeugnis, doch die im Holocaust erlittene Verwundung wollte nicht heilen. Er war 49 Jahre alt, als er Selbstmord beging.
VERARBEITUNG Als klinische Psychologin und Übersetzerin und als Tochter einer in Israel lebenden deutschen Familie, die zum Judentum übergetreten ist, setze ich mich häufig mit der Frage auseinander, ob Überlebende in der Lage sind, das Holocausttrauma seelisch zu überwinden, und ob die Möglichkeit, mündlich oder schriftlich Zeugnis abzulegen, einen Heilungsprozess einleiten kann. Dabei frage ich mich, wie das differentiale Schicksal überlebender und Deutsch schreibender jüdischer Dichter und Schriftsteller zu erfassen ist.
Alle erlebten den Verrat, den ihr Land und ihre Sprache an ihnen beging, alle wurde verfolgt, doch nur ein Teil von ihnen schaffte es, seelisch zu gesunden und nicht nur weiter zu existieren, sondern zu leben. Andere wie Celan und Sachs versanken immer tiefer im Trauma und waren nicht in der Lage, sich davon zu befreien und einen konkreten Bezug zur gelebten Gegenwart herzustellen.
Celans Lyrik wurde zunehmend hermetisch und unverständlich.
Dana Amir, Psychoanalytikerin, Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, hat Zeugenaussagen und literarische Texte von Überlebenden recherchiert. Ihrer Definition zufolge gibt es vier Modi der Auseinandersetzung mit einer traumatischen Lakune in der Psyche, die in Bezug auf ihre Fähigkeit differieren, eine mentale Bewegung auszulösen. Sie unterscheidet zwischen metaphorischem, metonymischem, exzessivem und muselmanischem Modus. Dabei betont sie insbesondere den Prozess der Selbstnegierung, der durch traumatische Elemente in der Psyche verursacht wird, und die Möglichkeit einer Verarbeitung des Traumas durch Zeugnisablegung und Einleitung eines Dialogs. In diesem Zusammenhang wird die Lyrik selbst zum Zeugnis oder, wie Celan sich ausdrückte, zur »Flaschenpost«, durch die der Dichter mitzuteilen versucht, was in seiner Seele vorgeht.
Viele Überlebende bezeugen, dass sie in zwei getrennten Welten leben – in der Welt ihrer traumatischen Erinnerungen (einer perpetuierten Vergangenheit) und in der realen Welt (der konkreten Gegenwart). Oft können sie diese Welten nicht miteinander vereinen, was laut Amir zur Konservierung der traumatischen Erinnerungen führt und die mentale Bewegung auf einen automatischen, sinnentleerten Vorgang reduziert. Wenn diese Überlebenden von ihrem Trauma berichten, legen sie Zeugnis für etwas ab, das eigentlich nicht zu begreifen ist. Man sollte daher versuchen, ihnen zuzuhören und ihre Aussage daraufhin zu prüfen, ob sie einen Ansatz für eine Durcharbeitung und Heilung bieten.
DISTANZ Ich möchte im Zusammenhang mit der Lyrik von Sachs und Celan nur auf zwei der vier erwähnten Modi eingehen: auf den metaphorischen und den metonymischen Modus. Der metaphorische Modus der Zeugnisablegung ermöglicht die Funktion des »inneren Zeugen«, einer Wechselbeziehung zwischen Ichform und dritter Person, zwischen dem erlebenden und dem reflektierenden Wesen, zwischen der Rolle des Opfers und der Rolle des Zeugen, wobei die Verbindung zwischen beiden Positio-nen aufrechterhalten werden sollte, damit eine Annäherung an die traumatische Verletzung möglich wird.
Die metaphorische Sprache des Zeugnisses stellt eine mentale Bewegung zwischen den Positionen her – das traumatische Objekt wird aus der Distanz betrachtet, ohne den Kontakt zu ihm zu verlieren. Der metaphorische Modus ist derjenige, der eine Heilung durch Auflösung der traumatischen Erstarrung und deren Übertragung aus dem Bereich der zwanghaften Wiederholung in den Bereich der gedanklichen Auseinandersetzung ermöglicht.
Es wäre denkbar, dass ein Teil der überlebenden Literaten, die sich eine mental stabilisierte Existenz aufbauen konnten, in einem der metaphorischen Modi Zeugnis abgelegt hat, wodurch eine integrative Bewegung zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Gang kam und die Gelegenheit entstand, das Trauma hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen.
Offenbar gehörten Celan und Sachs nicht zu dieser begünstigten Gruppe. Ihr mentales Überleben und das Zeugnis, das sie durch ihre Lyrik abgelegt haben, waren eher metonymischer Art. Der Modus der metonymischen Zeugnisablegung bleibt nach der Definition von Amir in der Ichform befangen.
MODUS Dieser Modus kommt in Texten zum Ausdruck, die immer wieder Charakteristika der traumatischen Erfahrung – Gefühle der Leere und Verstümmelung, der Fremdheit und des Nichtvorhandenseins – aktivieren. In diesen Texten wird die Erfahrung zwanghaft wiederholt, ohne sie darzustellen, zu verarbeiten oder sie aus der Distanz zu betrachten. Der metonymische Modus führt zu einer Perpetuierung der Erfahrung, erlaubt aber nicht, von ihr abzuweichen. Der traumatisierte Mensch lebt weiter, doch jede Abweichung vom Trauma wird als Bruch zwischen ihm und seiner Identität, als katastrophale Verstümmelung des Selbst empfunden.
Sachs und Celan haben zwar überlebt, sich aber seelisch nicht in der Gegenwart angesiedelt und sind im Laufe der Jahre immer wieder in die das Selbst negierende Lakune des Traumas abgeglitten, bis sie fast gleichzeitig aus dem Leben schieden. Die seit Langem kranke Nelly Sachs starb drei Wochen nach Celans Selbstmord.
Dieses zeitliche Zusammentreffen steht in keinem erkennbaren faktischen Zusammenhang, und doch kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass der schreckliche Tod des geistigen Gefährten in irgendeiner Weise zum endgültigen Erlöschen des flackernden Lebenslichts der Dichterin beigetragen haben könnte.