Frau Donath, Herr Kiesel, wenn Sie eine Bilanz der Arbeit der Bildungsabteilung im Zentralrat für das Jahr 2015 ziehen ...
Sabena Donath: ... dann hieße die: Wir werden immer besser! Wir haben letztes Jahr sechs große Tagungen veranstaltet und insgesamt fast 800 Personen mit unserem Angebot erreicht. Wir sind angekommen in den Gemeinden. Bei unserer Humortagung etwa hatten wir 180 Teilnehmer aus über 50 jüdischen Gemeinden. Das ist der bisherige Rekord.
Den Sie im kommenden Jahr noch übertreffen wollen?
Donath: Unser Ziel ist es, diesen Standard zu halten. Es geht uns nicht um Quantität und immer höhere Zahlen, sondern darum, über das ganze Jahr ein kontinuierliches Bildungsprogramm mit vielfältigen Themen anzubieten. In diesem Jahr haben wir unser Konzept ein bisschen variiert: Wir haben vier große thematische Tagungen, und wir haben die Fortbildungen für Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden wieder ins Programm aufgenommen. Die Sommerakademie für Studierende ergänzt unser Programm.
Was sind die Themen dieser Tagungen?
Doron Kiesel: Im März gibt es eine Konferenz zu jüdischer Philosophie. Jüdische Philosophie ist für viele Gemeindemitglieder eine Dimension der Orientierung auf ihrer Identitätssuche, seien sie religiös oder säkular. Gerade im Spannungsverhältnis Philosophie – Ethik – Religion erhoffen wir interessante Debatten.
Um welche philosophischen Themen geht es dabei konkret?
Kiesel: Wir werden der Frage nachgehen, welchen Beitrag die Lehren und Ideen des rabbinischen und talmudischen Judentums zum modernen jüdischen Denken geleistet haben. Weitere Aspekte betreffen die jüdische Ethik, die im Zusammenhang mit der Bewältigung der Herausforderungen des Alltags immer wieder Bezug zu jüdischen Traditionen nimmt. Dazu gehören die komplexen Auseinandersetzungen um Leben und Tod oder auch medizin- sowie bioethische Positionen in der Halacha.
Wie geht es danach weiter?
Donath: Im Juni beschäftigen wir uns mit dem hochaktuellen Thema Fundamentalismus. Wir wollen auf der Tagung religiöse, soziale, politische und psychologische Ursprünge fundamentalistischer Einstellungen analysieren und der Frage nachgehen, weshalb fundamentalistisch geprägte Lebensformen und islamistische Ideologien eine zunehmende Anziehungskraft auf eine wachsende Zahl von Jugendlichen in der westlichen Welt ausüben. Wir wollen verstehen, worin die Faszination fundamentalistischer Strömungen besteht. Warum geben Menschen ihre Autonomie auf zugunsten fanatischer Weltbilder?
Gibt es auch wieder eine Sommerakademie?
Donath: Ja, die findet im Juli in Frankfurt statt, zum Thema »Jüdische Perspektiven auf Nachkriegsdeutschland«. Wir wollen die Studierenden in eine Welt zurückführen, die sie biografisch nicht kennen, die aber wichtig ist für die Anfangszeit jüdischen Lebens in der Bundesrepublik. Zur Zeit der Auschwitz-Prozesse bestand große Unsicherheit, ob jüdisches Leben hier eine Zukunft hat. Das kann man an der Persönlichkeit des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer verdeutlichen, über den jüngst zwei neue Filme gedreht wurden. Wir wollen uns damit beschäftigen, wie Juden jene Zeit erlebt haben. Dabei nutzen wir als Quelle auch damalige Ausgaben der Jüdischen Allgemeinen, haben Zeitzeugen eingeladen und arbeiten mit literarischen, wissenschaftlichen und filmischen Dokumenten.
Um Filme geht es auch im Novemberseminar ...
Kiesel: Richtig, das ist ein Filmseminar, das wir gemeinsam mit der Murnau-Stiftung und der Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden veranstalten. Wir wollen uns anschauen, wie Juden im Film dargestellt werden. Filmemacher haben oft das Problem, dass sie zwar keine Stereotypen erzeugen wollen, aber doch möchten, dass das Publikum erkennt, dass es sich um jüdische Figuren handeln soll.
Es geht also nicht um explizit antisemitische Filme?
Kiesel: Nein. Der NS-Film hat die Frage für sich natürlich eindeutig gelöst. Es gibt aber auch »aufklärerische« Filme, die unfreiwillig mit jüdischen Stereotypen arbeiten. Bilder transportieren Stereotypen, und diese wahrzunehmen und zu analysieren, wird Aufgabe dieses Seminars.
Womit beschäftigen sich die Veranstaltungen für Führungskräfte aus den Gemeinden?
Donath: Den Gemeinde-Führungskräften möchten wir bestimmte Fähigkeiten vermitteln: Argumentations- und Kommunikationsfähigkeit, Leitungskompetenzen. Und das große Thema ist auch nach 25 Jahren noch die jüdische Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion. Es ist eine gewisse Solidität in den Gemeinden entstanden, es kommen aber immer noch Aufgaben auf die Gemeinden zu, die mit Integration zu tun haben. Welche sind das, welche Hilfe holt man sich, welche Vernetzungen sind notwendig? Darum geht es in den Seminaren.
Mit der Leiterin und dem Wissenschaftlichen Direktor der Bildungsabteilung sprach Ingo Way.