Am 9. November jährt sich in Deutschland zum 80. Mal der Jahrestag der Novemberpogrome von 1938. Mehr als 1400 Synagogen sind damals in Flammen aufgegangen, Tausende jüdische Geschäfte und Betriebe wurden ausgeraubt und zerstört, fast 100 Juden wurden ermordet und weit mehr in Konzentrationslager gebracht.
Die Ausstellung »Kristallnacht« – Antijüdischer Terror 1938 widmet sich nun den Ereignissen und zeigt auf, wie Politik und Gesellschaft in den vergangenen acht Jahrzehnten damit umgegangen sind. Am Dienstag wurde die Ausstellung im Berliner Dokumentationszentrum Topographie des Terrors eröffnet.
Projektträger sind die gleichnamige Stiftung sowie die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Beide Einrichtungen haben bereits mehrfach gemeinsame Ausstellungen zum Holocaust initiiert, darunter auch zum Themenkomplex Novemberpogrome.
begriffe »Wir widmen uns dieses Mal der Erinnerung an diesen Tag«, sagte Kurator Ulrich Baumann, »das hat es so noch nicht gegeben.« Darüber hinaus wollen die Initiatoren über Begriffe diskutieren. Sowohl mit den Bezeichnungen »Kristall-« oder »Reichskristallnacht« als auch mit dem Begriff »Novemberpogrom« sind die Ausstellungsmacher nicht zufrieden. »Wir sprechen in der Ausstellung von antijüdischem Terror oder Novemberterror«, sagte Baumann. Der Begriff »Reichskristallnacht« sei bereits in der NS-Zeit verwendet worden – angeblich als eine Schöpfung des Berliner Volksmundes.
Bis in die 70er-Jahre hinein sei die Bezeichnung »Kristallnacht« weit verbreitet gewesen. Wegen ihrer verharmlosenden Wirkung wurde jedoch davon Abstand genommen. Das heute gebräuchliche Wort »Novemberpogrome« sei hingegen irreführend. »Ein Pogrom ist eine spontane Ausschreitung«, sagte Baumann, »1938 war aber genau das Gegenteil der Fall. Nichts ist hier vom Himmel gefallen.«
So beleuchtet die Ausstellung gleich zu Beginn den Anlass der Terrorwelle. Zwei Tage vor den gewaltsamen Übergriffen kommt es in Paris zu einem Attentat auf einen Mitarbeiter der Deutschen Botschaft. Verübt wurde es – laut Protokoll des Verhörs – von dem jungen jüdischen Mann Herschel Grynszpan, dessen Familie im Rahmen der »Polenaktion« am 27. Oktober 1938 aus dem Deutschen Reich abgeschoben wurde. »Die deutsche Presse verarbeitet die Nachricht umgehend, es kommt zu einzelnen antijüdischen Ausschreitungen im Reich«, heißt es im Katalog zur Ausstellung.
Telefonkette Am Nachmittag des 9. November verstirbt der Botschaftsmitarbeiter, eine Nachricht, die Adolf Hitler am selben Abend erreicht. Es ist für seine Partei kein gewöhnlicher Abend. Es ist der 15. Jahrestag des Hitlerputsches – »überall im Deutschen Reich sitzen SA-Leute und NSDAP-Aktivisten noch zusammen und feiern«, heißt es im Begleittext. Hitler ruft zum »spontanen Volkszorn« auf, eine Weisung, die Partei- und SA-Führer per Telefonkette sofort weitergeben.
Das Ergebnis des inszenierten »Volkszorns« wird im Ausstellungsraum anhand von sechs Städten beschrieben, die als Fallbeispiele herangezogen werden. Der Besucher blickt von Glatz in Schlesien über Berlin bis nach Guntersblum in Rheinhessen. Wie Detektive haben die Ausstellungsmacher Tathergänge, Opfer und Täter, das Justizwesen sowie die Erinnerung an die Geschehnisse vor Ort rekonstruiert. Damit sind sehr detaillierte Informationen über die sogenannte Kristallnacht entstanden, die sich bei Weitem nicht nur im Dunkeln, sondern auch am helllichten Tag, vor den Augen aller, vollzogen hatte.
Fotos uniformierter SS-Männer, die Latten, Türen und Inventar zum Abtransport auf Lastwagen verladen, zeigen die Ausschreitungen gegen jüdische Gotteshäuser im fränkischen Hof. Die Ereignisse in Bremen belegt eine Fotoserie, die verhaftete jüdische Männer beim Marsch zum Zuchthaus zeigt. »Wir schritten durch eine schweigende Stadt«, notierte der ehemalige Rabbiner der Hansestadt 1958 in seinen Erinnerungen.
»Es gab Gaffer, Jubler und eine schweigende Masse«, sagte Uwe Neumärker, Kurator und Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, bei der Eröffnung der Ausstellung. Nach fast sechsjähriger antisemitischer Propaganda sei der Novemberterror in der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden gestoßen.
Propaganda »Erst gab es eine verbale Grenzverschiebung«, betonte Uwe Neumärker – und zog den Vergleich zur heutigen Situation in Deutschland, die ihm teilweise Angst bereite. »Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt Parallelen.« Er werde sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass aus dem Holocaust kein »Vogelschiss« und auch kein »Mahnmal der Schande« werde. »Eine erinnerungspolitische Wende werden wir abhalten«, sagte Neumärker.
Andreas Nachama, Rabbiner und Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, suchte eine Erklärung dafür, warum die Mehrheit vor 80 Jahren so empfänglich war für die antijüdische Propaganda. »Es wurde geschwiegen und darüber hinweggesehen. Dabei gab es die Möglichkeit eines alternativen Handelns«, sagte Andreas Nachama. »Einige Synagogen blieben unbeschädigt.« Oft werde die wirtschaftliche Lage aufgrund der Weltwirtschaftskrise als Argument für den Verlauf der Geschichte herangezogen. »Aber ist das eine Erklärung? Ich finde nicht.«
Neben den Fallbeispielen zeigt die Sonderausstellung in chronologischer Folge das wechselvolle Gedenken an die Ereignisse des Novembers 1938. Es habe Hochs und Tiefs gegeben, in der BRD wie in der DDR, sagte Kurator Ulrich Baumann.
Eine Zäsur in der Erinnerungskultur nehme allerdings das Jahr 1978 ein. Zum 40. Jahrestag hätten die Gedenkakte sprunghaft zugenommen. Warum die Entwicklung stattfand, könne er sich noch nicht endgültig erklären, sagte der Kurator. Somit bliebe noch immer genügend Raum für weitere Forschungen und Diskussionen. »Wir hoffen, diese mit unserer Ausstellung zu befördern.«
Die Ausstellung ist bis zum 3. März 2019 täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet.