Zum terroristischen Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 kann man als anständiger Mensch keine zwei Meinungen haben. Man kann Bücher darüber schreiben, muss es aber nicht.
Das hatte die Verlegerin Nea Weissberg auch gar nicht vor, als sie 20 jüdische Frauen bat, ihre freien Gedanken und Assoziationen, ihre Gefühle aufzuschreiben. Der Titel der Schrift ist Programm: Halle ist überall. Damit war klar, jener Terroranschlag ist Anlass, der Fokus der Autorinnen aber liegt ganz woanders.
Zeitgeschichte Herausgeberin Weissberg nennt ihren einführenden Essay »Welche Zeitgeschichten erinnern wir?« und nimmt den 9. November, »ein Tag der Schande, ein Tag der Freude«, ins Visier. Am 9. November 1989 nahm sie an einer Veranstaltung im Gedenken an die Pogromnacht im Berliner Hebbel-Theater teil. Als sie das Theater verlässt, nimmt sie auf der Straße in der Nähe der Mauer »Massen von Menschen, Stimmengewirr« wahr. Vor ihren Augen spielt sich ein weltpolitisches Ereignis ab.
In diesem geschichtsträchtigen Moment taucht der Gedanke auf, ob das Datum des Mauerfalls im Bewusstsein der Deutschen künftig das Ereignis der Pogromnacht verdrängen würde. In dieser Nacht hatten nur wenige auf dem Schirm, dass in einem wiedervereinigten Deutschland jenes nationalistische Gift noch einmal eine Chance bekommen könnte wie an jenem Datum im Jahr 1923 in München und zehn Jahre später im ganzen Land. Das nämlich ist sie, die unselige Tradition, in die der Anschlag einzuordnen ist: Halle ist überall!
Emotionen Es sind sehr private Gedanken, lesenswerte Überlegungen und berührende Emotionen, die hier auf 162 Seiten in Form von Essays, Dialogen und Gedichten erscheinen. Da ist die kindliche Erinnerung von Renate Aris an das brennende Dresden vom 13./14. Februar 1945, für 60 Juden in der Stadt gleichzeitig eine Nacht der Befreiung. Für den 15. Februar war deren Deportation in die Vernichtungslager geplant: »Der letzte Zug in die Hölle fiel aus!«
Da ist die jüdische Kultur, die die Sängerin Luba Meyer repräsentiert und die an jenem Tag in der Hallenser Synagoge war. Detailliert beschreibt sie ihre physische wie psychische Situation an jenem Tag. Ulrike-Rebekka Nieten, promovierte Semitistin, betrachtet den Anschlag am höchsten Feiertag Jom Kippur aus der Perspektive einer religiösen Jüdin: »Es war ein Angriff auf einen heiligen Raum in einer heiligen Zeit, ja, in der, für mich, heiligsten Zeit.«
Auftrag Alexandra Jacobson, geboren in Costa Rica, hört in einer Berliner Synagoge von dem Anschlag. Eben hatte sie bei Jiskor noch ihres Vaters gedacht, nun steht er vor ihrem geistigen Auge und erzählt, wie er bereits vor 1933 als Medizinstudent in Würzburg von Burschenschaftlern am Betreten des Hörsaals gehindert wurde. Maya Zehden sieht den Anschlag von Halle in Verbindung mit gleichgesinnten Terrorakten in Utoya, Christchurch, Toronto, Hanau … Sie sieht für sich darin den Auftrag, sich für Israel einzusetzen, was sie seit Jahren in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft tut. Höchst interessant ist ein ausführliches Gespräch, das Rachel Alfandari mit ihren Töchtern Nelly und Julia über jüdisches Leben heute und in Zukunft führt.
Nea Weissberg ist ein bekenntnisreicher, vielfach nachdenklicher, immer lesenswerter Literaturmix gelungen. Dazu hat jede der Autorinnen etwas mitgebracht, und Sharon Adler hat es fotografiert. Persönliche Dinge wie die Uhr des Großvaters, den Kidduschbecher der Eltern, Familienfotos. Und über allem steht der selbstbewusste Satz: »Wir haben überlebt!«
Nea Weissberg (Hrsg.): »Halle ist überall – Stimmen jüdischer Frauen«. Lichtig, Berlin 2020, 162 S., 20 €