Redezeit

»Wir haben panische Angst davor, uns festzulegen«

Eva Illouz Foto: Susanne Schleyer

Frau Illouz, dass Liebe nicht nur mit Glück, sondern auch mit Kummer verbunden sein kann, ist hinlänglich bekannt. Warum aber verursacht die Liebe heute viel mehr Leid als früher, wie Sie es in Ihrem neuen Buch »Warum Liebe weh tut« beschreiben?
Weil die Freiheit viele von uns chronisch unglücklich macht. Wir haben lange darum gekämpft, wirklich frei zu sein und allein aus Liebe heiraten zu können. Noch in den 1960er-Jahren gaben die Eltern und die Gesellschaft vor, welche Person für einen als Partner infrage kommt. Doch jetzt, wo es fast keine Zwänge mehr gibt und im Grunde jeder jeden heiraten kann, müssen wir feststellen, dass wir mit dieser Freiheit gar nicht umgehen können. Unser Traum von Freiheit hat sich erfüllt, aber er entpuppt sich mehr und mehr als Bürde.

Woran genau machen Sie das fest?
Ein exemplarisches Beispiel: Früher lernte man seinen Partner in einem Café, auf einer Party oder in beruflichen Kontexten kennen. Man spürte intuitiv, ob man diesen Menschen mag oder nicht. Maßgebliche Studien zeigen, dass diese Art von unbewusster Entscheidung sehr verlässlich ist, weil sie auf unzähligen Erfahrungen basiert. Heute ist das Internet das zentrale Medium, durch das Menschen Bekanntschaften machen. Dadurch sind sie austauschbar geworden. Wenn eine Beziehung scheitert, gehen wir einfach wieder online und schauen uns auf dem »Markt« nach anderen »Produkten« um.

Für die Liebe gelten mittlerweile dieselben Mechanismen wie für den Kapitalismus?
Jedenfalls belegen das zahlreiche Gespräche, die ich für meine Untersuchungen geführt habe. Das Internet präsentiert Menschen, als seien sie Produkte im Supermarkt. Der »Preis« des Menschen bemisst sich nur nach Aussehen, Einkommen und Art des Berufs. Wir taxieren Menschen durch das Internet nur noch nach diesen oberflächlichen Gesichtspunkten.
Das führt dazu, dass wir die Kataloge der Partnerbörsen durchblättern und panische Angst davor haben, uns festzulegen – aus Angst, einen womöglich besser geeigneten Partner zu verpassen. Ich finde das äußerst tragisch, denn eigentlich glauben wir nach wie vor an die romantische Liebe.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Frauen unter der Ökonomisierung der Liebe mehr leiden. Warum?
Frauen vernachlässigen wegen des Kinderkriegens oft ihre Karriere und sind dadurch vom Mann materiell abhängig. Das führt zwangsläufig zu einer unguten Machtverschiebung in der Beziehung. Zudem suchen Frauen sich in der Regel Männer aus, die finanziell gut gestellt sind, damit sie die Familie versorgen können. Das hat zur Folge, dass diese erfolgreichen Männer aus einem ungleich größeren Pool an Frauen auswählen können als umgekehrt. Das nutzen viele von ihnen schamlos aus. Sie sind, wenn man so will, emotionale Kapitalisten, sie akkumulieren erotisches Kapital. Sie nutzen, weil sie es können, ihre privilegierte Situation aus.

Wie könnte Ihrer Ansicht nach ein zeitgemäßes Männerbild aussehen?
(lacht) Ich bin nicht Freud oder Dr. Ruth, ich gebe keine Ratschläge, als Soziologin beobachte und erkläre ich bloß. Mein persönlicher Eindruck aber ist, dass auch den Männern ein bisschen mehr Leidenschaft, ein Bekenntnis zu einer Person guttäte. Es ist kein Zeichen von Schwäche, leidenschaftlich verliebt zu sein. Eine Frau, die mit 30 Jahren kein Kind hat und unverheiratet ist, gilt irgendwie als gescheitert und bemitleidenswert – auch wenn sie beruflich erfolgreich ist. Ein Mann mit 50 Jahren, der von einer Affäre zur nächsten springt, gilt hingegen als cool.

Sie leben seit mehreren Jahren in Israel. Lieben die Israelis anders als etwa die Franzosen oder die Deutschen?
Auf jeden Fall! Die Familie spielt hier eine viel größere Rolle als etwa in Deutschland. Für die israelischen Frauen gehört es zum Lebenskonzept, mehrere Kinder zu bekommen und gleichzeitig erfolgreich zu sein. Und da kommt der Staat ins Spiel. In Frankreich beispielsweise, wo ich aufgewachsen bin, unterstützt der Staat die Frauen vorbildlich. Frauen wie Ségolène Royal sind dort keine Ausnahme. Sie hat viele Kinder, ist aber trotzdem Spitzenpolitikerin.

Haben Sie das, worüber Sie in Ihrem Buch schreiben, folglich nie an sich selbst erlebt? Wie schwierig es ist, Kinder, Karriere und Liebe erfolgreich miteinander zu kombinieren?
Damit hatte ich persönlich, ehrlich gesagt, keine Schwierigkeiten. Ich habe das Glück, mit einem außerordentlich lieben und kooperativen Mann verheiratet zu sein.

Das Gespräch führte Philipp Engel.


Eva Illouz wurde 1961 als Tochter eines jüdischen Juweliers in Marokko geboren. Mit zehn Jahren zog ihre Familie nach Frankreich, wo sie später Soziologie, Kommunikations- und Literaturwissenschaften studierte. Illouz’ Bücher »Der Konsum der Romantik« und »Die Errettung der modernen Seele« wurden von der Kritik sowie auch von einer größeren Leserschaft begeistert aufgenommen. Ihr Lebensthema als Soziologin ist die Frage, inwiefern der Kapitalismus die Liebe im Allgemeinen und die Codes der Partnerwahl im Besonderen beeinflusst. Seit 2006 lehrt sie als Professorin Soziologie und Anthropologie an der Hebrew University in Jerusalem, wo sie zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Professor ist, und ihren gemeinsamen drei Söhnen auch lebt. Ihr aktuelles Buch »Warum Liebe weh tut« ist bei Suhrkamp erschienen.

Meinung

Neukölln stigmatisiert sich selbst

Heleen Gerritsen, künftige Leiterin der Deutschen Kinemathek, unterschrieb 2023 einen Boykottaufruf gegen Lars Henrik Gass. Jetzt liefert sie eine schräge Begründung nach

von Stefan Laurin  16.05.2025

TV-Tipp

Arte zeigt Porträt des kanadischen Sängers Leonard Cohen

Es ist wohl das bekannteste Lied des kanadischen Sängers Leonard Cohen. Und so steht »Hallelujah« auch im Zentrum eines ebenso unterhaltsamen wie inspirierenden Porträts über diesen modernen Minnesänger

 16.05.2025

Musik

Yuval Raphael steht im Finale des ESC

Die 24-jährige israelische Sängerin wurde vom Publikum in Basel für ihren Beitrag »New Day Will Rise« gefeiert

 15.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 15.05.2025

Berlin

»So monströs die Verbrechen der Nazis, so gigantisch dein Wille, zu leben«

Leeor Engländer verabschiedet sich in einer berührenden Trauerrede von Margot Friedländer. Wir dokumentieren sie im Wortlaut

von Leeor Engländer  15.05.2025

Kommentar

Journalistisch falsch, menschlich widerlich

»News WG«, ein Format des Bayerischen Rundfunks, hat eine Umfrage darüber gestartet, ob man Yuval Raphael, eine Überlebende der Massaker des 7. Oktober, vom ESC ausschließen soll

von Johannes Boie  15.05.2025

Mirna Funk

»In Tel Aviv bin ich glücklich«

Seit einem Jahr lebt die Berliner Autorin in Israel. Nun hat sie einen Reiseführer geschrieben. Mit uns spricht sie über Lieblingsorte, Israel in den 90er-Jahren und Klischees

von Alicia Rust  15.05.2025

Yael Adler

»Mir geht es um Balance, nicht um Perfektion«

Die Medizinerin über die Bedeutung von Ballaststoffen, darmfreundliche Ernährung als Stimmungsaufheller – und die Frage, warum man trotzdem auch mal eine Bratwurst essen darf

von Ayala Goldmann  15.05.2025

Basel

Israel und Österreich im zweiten ESC-Halbfinale

Beim ESC werden die letzten zehn Finalplätze vergeben. 16 Länder treten an, darunter Yuval Raphael für Israel. Auch JJ aus Österreich und das Duo für Deutschland, Abor & Tynna, stehen auf der Bühne

 15.05.2025