Werner Arnold

»Wir haben bessere Informationen«

»Es wäre gut, wenn wir mehr öffentliche Mittel und auch noch mehr Personal hätten«: Werner Arnold, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg Foto: Philipp Rothe

Herr Arnold, wie war es für Sie und Ihre Studierenden, nach dem 7. Oktober an einer jüdischen Hochschule in Deutschland zu sein?
Die Monate seit dem 7. Oktober waren mental sehr anstrengend. Sie müssen sich vorstellen, man sieht weinende Studenten an einer Hochschule, an der ansonsten immer so eine Fröhlichkeit herrscht. Das nimmt einen schon sehr mit.

Bedeutete dieser »Schwarze Schabbat« auch einen Paradigmenwechsel für die Hochschule?
Ja, in vielerlei Hinsicht. Wir hatten natürlich in Heidelberg nicht die Antisemitismus-Probleme, die die Amerikaner mit ihren Elite-Universitäten haben. Ich habe von meinen Rektorenkollegen von der Uni Mannheim und der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg sehr wohl Sympathiekundgebungen bekommen. Das fand ich auch ganz gut. Was uns aber fehlt, ist die Sympathie allgemein oder der Zuspruch aus der Bevölkerung. Wir haben eine Mahnwache gemacht auf dem Universitätsplatz in Heidelberg. Da waren nur rund 500 Menschen da – in einer Stadt mit über 100.000 Einwohnern. Was darüber hinaus das Leben sehr stark beeinträchtigt hat, war die große Bedrücktheit unter den Studenten. So gut wie alle haben Verwandte oder Freunde in Israel. Das gilt naturgemäß auch für die Professoren und alle übrigen Mitarbeiter.

Haben Sie denn als Hochschule auch Proteste organisiert gegen die Gleichgültigkeit im Land und die Israelhasser-Demonstrationen?
Ja, wir haben mit den Studenten auch gegen eine Gaza-Veranstaltung, die hier in Heidelberg stattgefunden hat, protestiert. Viel wichtiger aber ist, dass die Studenten dann die Initiative ergriffen und ein Projekt ins Leben gerufen haben, das sich »ArabAsk« nennt. Damit sollen auf TikTok und Instagram junge Menschen mit arabischsprachigem Migrationshintergrund angesprochen werden, um eine gewisse Gegenrede zum Antisemitismus in der islamischen Welt herzustellen. Wir haben ja nicht nur jüdische, sondern auch arabischsprachige muslimische Studierende, die sich in dem Projekt engagieren. Des Weiteren werden wir auch einen Verein gründen, um Mittel für »ArabAsk« zu akquirieren. Die Idee, aufklärende Videoclips auf Arabisch zu verbreiten, finde ich sehr gut, weil man junge Menschen am ehesten über diese sozialen Medien erreicht.

Wie stand es um die Solidarität der anderen Hochschulen im Lande Ihnen gegenüber?
Da kam gar nichts.

Also wie in großen Teilen der Kulturelite, etwa beim Deutschen Bühnenverein. Dessen Präsident, Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda, gehört zu den Unterzeichnern der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, die sich gegen den Beschluss des Bundestags gegen die Israel-Boykottbewegung BDS wendet. Er steht auch nach dem 7. Oktober noch darunter – wie etliche andere. Wie kann man mit einem solchen Bildungshorizont so empathiefrei sein?
Das liegt natürlich daran, dass man Dinge plant und Veranstaltungen durchführt über Kulturen und Menschen, von denen man gar nichts versteht. Wenn man wie bei der »documenta 15« Leute aus Indonesien einlädt, muss man etwas wissen über Indonesien. Aber es weiß ja niemand etwas. Weil das Land an den deutschen Hochschulen als eigenes Studienfach in Deutschland gar nicht vertreten ist, obwohl es das größte muslimische Land ist. Und wenn man schon von der jüdischen Kultur nichts versteht oder nichts verstehen will, obwohl das Judentum seit 1700 Jahren in Deutschland anwesend ist und man schon längst mehr wissen könnte in so langer Zeit, wie will man dann über Indonesien oder über den Kongo oder irgendwelche anderen Länder, die man als den Globalen Süden bezeichnet, Bescheid wissen?

Sie erforschen unter anderem die unterschiedlichen arabischen Dialekte der Juden, ein in Deutschland wohl unbekanntes sprachhistorisches Phänomen …
Arabisch war einmal die meistgesprochene Muttersprache der Juden in allen Teilen der Welt. Und heutzutage ist diese besondere Sprache fast tot. Jeder weiß, dass Palästinenser vertrieben worden sind in Israel. Aber dass mindestens genauso viele Juden aus der arabischen Welt vertrieben worden sind, weiß keiner. Wir Wissenschaftler müssen versuchen, so weit wie möglich Wissenstransfer in die Gesellschaft zu leisten. Denn die Wissenschaft wird vom Steuerzahler finanziert, und dieser sollte auch ein Recht darauf haben, darüber informiert zu werden, was die Ergebnisse dieser Forschung sind. Und zwar in einer allgemein verständlichen Sprache natürlich.

Haben Sie auch ein spezifisches Format für Erwachsene nach dem 7. Oktober entwickelt?
Ja, es gibt eine von den Studenten organisierte Ringvorlesung, und zwar unter dem Titel »Israel für Anfänger«. Die soll vor allen Dingen dazu dienen, dieser unglaublichen Unkenntnis in der Bevölkerung nicht nur bezüglich Israel, sondern auch über das Judentum generell etwas entgegenzusetzen und darüber aufzuklären, wie die Situation in Wirklichkeit ist. Denn diese Orientexperten, die häufig in unseren Medien über Israel reden, können weder Hebräisch noch Arabisch – und oft waren sie noch nicht einmal dort. Da haben wir doch bessere Informationen, die wir dann weitergeben können.

Man kann der Gesellschaft Wissen vermitteln. Aber es kann nicht die Aufgabe der Juden sein, gegen Antisemitismus auf die Straße zu gehen.
Nein, das ist nicht die Aufgabe der Juden. Aber sie können und müssen natürlich zur Aufklärung einen bedeutenden Beitrag leisten.

Wie setzt sich denn Ihre Studentenschaft zusammen?
Jeder ist willkommen. Es ist auch gewünscht, dass nicht nur Juden bei uns studieren, sondern auch andere Menschen sich eine tiefere Kenntnis des Judentums erarbeiten. Wir haben relativ viele jüdische Studenten aus Osteuropa, die wohl wenig vom Judentum mitbekommen haben im Ostblock, die sich jetzt wieder ihrer Kultur zuwenden, die sie einmal fast verloren hatten. Und dann gibt es natürlich Studenten, die aus anderen Kulturen kommen, Muslime und Christen, die das Judentum einfach für eine faszinierende Kultur halten und mehr darüber wissen wollen … Wir bieten ja Geschichte, jüdische Kunst, Philosophie, Hebraistik und weitere Aspekte jüdischen Wissens an. Schließlich ist das Judentum eine über 3000 Jahre alte Kultur, die sich auf drei Kontinenten, später dann sogar auf vier Kontinenten entwickelt hat und sehr viele unterschiedliche Lebensweisen und kulturelle Leistungen hervorgebracht hat, das übt schon eine sehr große Faszination auf junge Menschen aus, sich damit zu beschäftigen.

Werden Sie denn als Institution wahrgenommen, etwa in der Hochschulrektorenkonferenz, oder gelten Sie da eher als Exot?
Die Hochschulrektorenkonferenz ist eine riesige Veranstaltung. Da kommt man nicht unbedingt immer zu Wort. Aber die Hochschulrektoren haben Untergruppen. Und da gehören wir in die Gruppe der kirchlichen Hochschulen; die sind alle ähnlich klein wie die Hochschule für Jüdische Studien. Und da kann man sich schon austauschen und die Probleme besprechen, die auftreten.

Was sind Ihre Schwerpunkte für dieses akademische Jahr? Gibt es so etwas wie eine zeitgeschichtliche Begleitung der Ereignisse in Israel und Gaza?
Wir haben seit einiger Zeit den Lehrstuhl für Israel und Nahoststudien. Dessen Inhaber, Professor Johannes Becke, ist eingebunden in ein ganz neues Projekt mit der Universität Heidelberg, das zu Beginn des Wintersemesters startete. Es heißt »Ambivalente Feindschaft« und ist ein Graduiertenkolleg, das über fünf Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Sie hatten erstmals auch ein interdisziplinäres Projekt mit der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg …
2023 wurde zum ersten Mal eine unserer Professorinnen, Birgit Klein, Fellow im Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg. Das ist ein Kolleg, das interdisziplinäre Forschungen unterstützt. In diesem Fall war es die Zusammenarbeit unserer Professorin für die Geschichte des jüdischen Volkes mit einem Professor für zelluläre Immuntherapie, Michael Schmitt. Das war unsere erste Zusammenarbeit mit der medizinischen Fakultät. Die beiden haben ein Jahr lang ein Forschungsprojekt betrieben, es hieß »Blut ist ein ganz besonderer Saft«. Da ging es um medizinische und ethnisch religiöse Betrachtungen aus jüdischer Sicht.

Es gibt bei Ihnen aber noch ein anderes großes Projekt …
Ja, das ist das Akademieprojekt von Hanna Liss, unserer Professorin für Bibel und Jüdische Bibelauslegung. Da geht es um Bibel-Glossare als verborgene Kulturträger und den judäo-französischen Kulturaustausch im Hochmittelalter. Das ist ein 18 Jahre dauerndes Projekt, das die Hochschule für Jüdische Studien zusammen mit dem Romanisten Stephen Dörr durchführt und wofür die Union der Deutschen Akademie der Wissenschaften 6,5 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Das ist wirklich ein großartiges Projekt, das aufzeigt, wie diese beiden Kulturen, die jüdische und die französische, miteinander verbunden waren.

Sind das alles auch Fenster in die Gesellschaft, durch die hoffentlich etwas mehr Allgemeinwissen über das Judentum nach draußen getragen wird?
Gewiss. Aber ich würde mir schon wünschen, dass die Hochschule noch etwas mehr Förderung und Unterstützung bekommt. Die Aufgaben werden immer mehr. Und die Kollegen arbeiten an der Belastungsgrenze, und nicht alle haben einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der sie unterstützen könnte. Da wäre es gut, wenn wir mehr öffentliche Mittel und auch noch mehr Personal hätten, um die Aufgaben so zu erfüllen, dass sie auch zur großen Zufriedenheit erfüllbar sind.

Mit dem Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) sprach Daniel Killy.

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