Herr Wegrzyn, am 9. November kommt Ihr Film »Miss Holocaust Survivor« in die Kinos. Stehen Sie in Kontakt zu den älteren Damen, um die sich Ihr Film dreht?
Ja, und sie sind wohlauf, es geht ihnen gut. Das ist das Positivste überhaupt, denn die Damen sind ja keine 20 mehr. Tova ist kürzlich 100 geworden – und sie geht noch immer jeden Tag ins Fitnessstudio. Rita geht es ebenfalls gut, auch wenn das Alter ihr manchmal zu schaffen macht.
Wie geht sie mit der Situation um?
Die Lage vor Ort ist natürlich sehr angespannt. Beide Frauen wohnen in Haifa, im Norden Israels, relativ weit weg vom Gazastreifen. Aber die große Gefahr ist, dass der Krieg sich auf weitere Länder ausweitet, besonders den Libanon. Wie wird die Hisbollah reagieren? Deswegen sind alle sehr beunruhigt. Aber Tova geht weiterhin täglich zum Sport – es ist ihre Form des Widerstands. Jenseits der Kamera hat sie mir mal gesagt, dass ihre größte Genugtuung gegenüber Hitler und den Nazis ist, dass sie Israel zwei Söhne, fünf Enkel und inzwischen 14 Urenkel geschenkt hat. Sie hat so einen Spirit.
Wie ist die Idee zu dem Dokumentarfilm entstanden, der einen Schönheitswettbewerb für Schoa-Überlebende präsentiert?
Eine Bekannte hat mir einen Artikel in der britischen Zeitung »The Guardian« gezeigt, der von diesem Wettbewerb berichtete. Ich dachte sofort: Was für eine großartige Dokumentarfilm-Idee! Als Nächstes habe ich einen Flug nach Tel Aviv gebucht, bin nach Haifa gefahren, habe mich vorgestellt – und wurde sehr warmherzig willkommen geheißen.
Ab da hat es aber noch eine Weile gedauert, bis ich meine Protagonistinnen gefunden hatte. Das Heim, in dem die Holocaust-Überlebenden wohnen, bekommt des Öfteren Besuch, von einzelnen Menschen, aber auch von ganzen Gruppen. Es wird von evangelikalen Christen finanziell unterstützt, und Besucher aus der ganzen Welt kommen vorbei, um den Überlebenden zuzuhören.
Die Bewohnerinnen und Bewohner bekommen sehr viel Gelegenheit dazu, ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Was für viele wichtig ist. Nicht für alle übrigens! Erst ziemlich spät wurde mir klar: Es gibt unterschiedliche Arten, mit Traumata umzugehen.
Wie äußert sich das bei den beiden Haupt-Protagonistinnen?
Rita zieht ein Stück ihres Selbstverständnisses daraus, dass sie ihre Geschichte so vielen Menschen wie möglich weitererzählt. Tova hingegen hat jahrzehntelang nichts beziehungsweise so wenig wie möglich erzählt. Sie wollte auf diese Art ihre Kinder schützen und irgendwie eine Art »Normalität« herstellen.
Tova und Rita könnten wahrscheinlich unterschiedlicher nicht sein
Das stimmt. Tova wohnt noch in ihrem eigenen Apartment. Es ist sehr minimalistisch eingerichtet, sehr aufgeräumt. Rita ist das genaue Gegenteil: pures kreatives Chaos. Sie ist Künstlerin und mag es so. Ihre Bilder hingegen sprechen eine sehr klare Sprache. Eines davon hängt übrigens in Yad Vashem.
Wir sehen die beiden während der Proben zum Wettbewerb »Miss Holocaust Survivor«. Was hat Sie überrascht?
Heli, die künstlerische Leiterin, hat mir zu Beginn gesagt: Du wirst dich wundern, wie wettbewerbsorientiert manche von ihnen sind. Ich selbst spreche kein Hebräisch, das heißt, manches davon habe ich erst mitgekriegt, als ich bei der Sichtung saß und in den Untertiteln gelesen habe, was untereinander gesagt wurde. Da musste ich laut lachen! Ein anderes Beispiel ist, wie Rita die Gewinnerin der letzten Ausgabe des Wettbewerbs »kommentiert«. Und die wiederum berichtet, was sie von den aktuellen Kandidatinnen hält. Da habe ich schon überlegt: Soll ich das mit reinnehmen? Aber es war mir wichtig, sie so zu zeigen, wie sie sind: als echte Menschen. Mit Ecken und Kanten. Und mit Humor.
Es mag vielleicht seltsam anmuten, aber man assoziiert Schönheitswettbewerbe sofort mit TV-Formaten wie »Germanyʼs Next Topmodel«.
Weil Sie »Germanyʼs Next Topmodel« erwähnen: Mich hat die Idee gereizt, etwas, das aus der Popkultur bekannt ist, mit einem ernsten Thema zu verbinden. Das Durchschnittsalter bei Dokumentarfilmzuschauern liegt bei 50 plus. Ich dachte: Wenn ich die Chance haben will, jüngere Menschen zu erreichen, die vielleicht noch nie einer Holocaust-Überlebenden zugehört haben, muss ich sie mit irgendetwas ansprechen, das sie zum Teil auch kennen. Mich hat fasziniert, die Geschichten dieser wunderbaren Frauen, diese Geschichten unglaublicher innerer Schönheit über ein Format zu erzählen, das sonst nur für äußere Schönheit steht. Und wenn ich dadurch auch nur zehn junge Menschen dazu bekomme, Rita und Tova zuzuhören, habe ich – so denke ich – etwas erreicht.
Der Film changiert zwischen schönen Momenten, Erzählungen von unvorstellbarer Grausamkeit und lustigen Szenen. Hilft Humor?
All diese Frauen sind mit einem unglaublichen Humor gesegnet. Sie lachen, machen Witze, aber im nächsten Moment erzählen sie dir von etwas, das dir die Kehle zuschnürt. Diese Balance zwischen hellen und dunklen Momenten herzustellen, war die größte Herausforderung beim Schnitt des Films.
Der Wettbewerb ist nicht unumstritten. Wie stehen Sie dem Ganzen gegenüber?
Natürlich ist das Konzept provokativ. Ich habe mir auch sofort die Frage gestellt: Darf man das? Dann bin ich hingefahren, habe erfahren, dass dieser Schönheitswettbewerb von zwei Menschen ins Leben gerufen wurde: zum einen vom Gründer des Altenheims, der immer nach einem Weg sucht, etwas Schönes, etwas Gutes für die Überlebenden zu veranstalten. Das Entscheidende war aber die Meinung der Mitinitiatorin Izabella Grinberg, einer israelischen Trauma-Therapeutin. Sie erklärte mir, dass es Traumata gibt, die man nicht komplett therapieren kann, weil sie einem Menschen zu früh in seinem Leben zugefügt wurden. Alles, worauf man hoffen kann, ist, dass man dieses Schwarz-Weiß-Bild, das diese Frauen sehr häufig von sich haben, mit ein paar Farbtupfern bereichern kann.
Womit zum Beispiel?
Dass sie sich einen Abend lang schön fühlen, dass sie das Gefühl bekommen, geliebt zu werden, Applaus bekommen, anerkannt und gesehen werden. Vor allem von ihren Familien, ihren Kindern und Enkelkindern, die alle anwesend waren. Natürlich habe ich die ganze Kritik sowohl von links als auch von rechts, von oben und von unten gelesen. Jeder scheint eine Meinung dazu zu haben. Aber eigentlich gibt es doch nur eine Instanz, die darüber entscheiden kann, ob man das machen kann oder nicht, und das sind die Frauen selbst! Alle anderen können eine Meinung haben. Aber sorry, diese Meinung ist zweitrangig. Wirklich relevant ist die Ansicht der Frauen, die all diesen Traumata zum Trotz auf der Bühne stehen, strahlend und schön – in der ganzen Bedeutungsbreite, die das Wort »schön« hat – mit der Botschaft: Wir haben überlebt, wir sind immer noch hier, und wir feiern das Leben!