Herr Jehoshua, US-Präsident Donald Trump hat einen Nahost-Plan für Israel und die Palästinenser vorgestellt. Sie haben 2018 selbst einen Friedensplan skizziert. Welchen Plan halten Sie für besser – Trumps oder Ihren eigenen?
Ich habe 50 Jahre lang an die Zweistaatenlösung geglaubt. Ich dachte, das sei das Beste: zwei Staaten mit einer klaren Grenze, auf der Basis der Grenzen von 1967. Aber auch wegen der Siedlungen im Westjordanland bin ich an dieser Lösung mittlerweile verzweifelt. Heute leben die Palästinenser in kleinen Enklaven, die nicht miteinander verbunden sind, um die israelischen Siedlungen zu schützen, und man verspricht ihnen einen sogenannten Staat. Meiner Meinung nach sind die Chancen, dass ein solcher Plan Rückhalt findet, sehr gering. Ich glaube nicht, dass er eine Zukunft hat. Trump kann den Palästinensern nichts diktieren – so wie es auch US-Präsident Bill Clinton nicht konnte, obwohl dessen Vorschlag den Palästinensern gegenüber viel großzügiger war. Trumps Vorschlag überlässt Israel die meisten Optionen, den Palästinensern bleiben ein paar Krumen. Ich glaube, dass die Palästinenser mehr und mehr zu einer Einstaatenlösung tendieren. Das wiederum ist schwierig für Israel wegen des demografischen Problems.
Was schlagen Sie vor?
In dem Plan, den ich in der Zeitung »Haaretz« vorgestellt habe, habe ich versucht, eine überzeugende Lösung zu finden, sowohl, was die Gebiete, als auch, was eine funktionierende Demokratie angeht. Ich gebe zu, auch bei meinem Plan gibt es Schwierigkeiten …
Ich bin müde, müde des Nahen Ostens, müde der Israelis – und der Palästinenser. Ja, auch die Palästinenser sind schuld.
Sie haben sich von der Zweistaatenlösung verabschiedet. Trump dagegen spricht von einer »realistischen Zweistaatenlösung«.
Das ist keine Zweistaatenlösung, wenn man den palästinensischen Staat gebietsmäßig einschränkt und ihn in mehrere Stücke teilt. Aber was soll ich noch sagen? Ich bin müde, müde des Nahen Ostens, müde der Israelis – und der Palästinenser. Ja, auch die Palästinenser sind schuld. Sie waren in der Vergangenheit einer viel besseren Lösung des Konflikts nahe, und sie haben sie abgelehnt. Aber wir können die Besatzung nicht fortsetzen, wir müssen ihnen Rechte geben. Und wie in der Stadt Jerusalem müssen wir es irgendwie schaffen, zusammenzuleben.
Trump hat zugesagt, dass Jerusalem Israels ungeteilte Hauptstadt bleiben soll. Aber auch die Palästinenser sollen eine Hauptstadt in Ost-Jerusalem bekommen.
Es geht nur um arabische Dörfer und Viertel in der Umgebung, die Israel annektiert hat. Trump will den Palästinensern keinen Status im Herzen der Stadt geben. Was ist das für eine Hauptstadt? Soll durch Jerusalem etwa eine internationale Grenze verlaufen? Ich sehe keine andere Lösung, als zusammenzuleben – so wie mit den arabischen Bürgern in Israel. Das ist ein gutes und ermutigendes Beispiel: zwei Millionen Palästinenser mit israelischem Pass und einer Vertretung im Parlament, der Knesset. Beide Gesellschaften, die jüdische und die arabische, haben einen Modus Vivendi gefunden. Wir müssen einen solchen Modus auch mit den palästinensischen Bewohnern des Westjordanlandes finden. Das ist nicht leicht, aber auf jeden Fall besser als ein kleines Staatsgebilde, das nur Ärger bringen wird.
In Ihrem jüngsten Buch schildern Sie eine glückliche Beziehung: Die Frau kümmert sich liebevoll um ihren Mann, der unter Demenz leidet. Ein früheres Buch von Ihnen heißt »Späte Scheidung«. Haben Sie sich jetzt bewusst dafür entschieden, eine lange Ehe zu schildern?
In »Späte Scheidung« geht es um ein Paar, das noch unter einem Konflikt der Großeltern leidet und ihn austrägt. Aber in anderen Büchern wie »Die befreite Braut« und »Freundesfeuer« beschreibe ich gute und freundschaftliche Beziehungen. Mein letztes Buch, »Der Tunnel«, habe ich geschrieben, als meine Frau plötzlich schwer krank wurde. Sie starb innerhalb von drei Monaten, mitten in der Arbeit an meinem Buch. Ich habe ihr das Buch gewidmet, übrigens auch andere Bücher. Sie hat es noch geschafft, 70 Seiten zu lesen. Ganz allgemein kann man sagen, dass ich in meinen Werken, wenn sie sich mit Familien und Paaren beschäftigen, partnerschaftliche Ehen schildere. Ich bin der Meinung, dass Gleichberechtigung der Schlüssel für eine gute Ehe ist – wenn Mann und Frau voneinander unabhängig und auf Augenhöhe sind, was Status, Karriere, Haushalt und die Erziehung der Kinder angeht. Ich glaube, dass die Hälfte aller Ehen gut und erfolgreich ist, auch wenn es manchmal Streit und Probleme gibt. Und ich möchte auch ein Gegengewicht schaffen zu den vielen Romanen in Israel und im Ausland, in denen es immer um Ehekrisen, Betrug und Scheidung geht. In meinen Werken möchte ich die Ehe verteidigen.
Nachdem meine Frau gestorben war, fühlte ich mich sehr einsam. Dieses Buch hat mich gerettet, vor der Einsamkeit, dem Schmerz, der Trauer.
Wie haben Sie es nach dem Tod Ihrer Frau geschafft, weiter zu schreiben?
Es war sehr schwer. Wir haben über 56 Jahre zusammengelebt. Nachdem sie gestorben war, fühlte ich mich sehr traurig und sehr einsam. Das Einzige, was ich tun konnte, war, das Buch zu Ende zu schreiben – auch, weil ich den Plan dafür schon im Kopf hatte. Dieses Buch hat mich wirklich gerettet, vor der Einsamkeit, vor dem Schmerz, vor der Trauer.
Ihre Hauptfigur, Zwi Luria, leidet unter Demenz – etwas, vor dem viele Menschen sich sehr fürchten. Haben Sie selbst keine Angst vor dem Vergessen?
Nein. Ich habe Zwi Luria in den ersten Phasen seiner Demenz beschrieben. In späteren Phasen kann Demenz in der Tat sehr beängstigend sein, vor allem für diejenigen, die mit dem Kranken zusammenleben – nicht so sehr für den Betroffenen selbst. Auf Hebräisch gibt es zwei Worte: »Schitajon« (Demenz) und »Kihajon« (Verdunkelung). Das sind die Begriffe der Akademie für die Hebräische Sprache. Die Tatsache, dass es nicht nur das Wort »Kihajon« gibt, hat mir die Möglichkeit gegeben, das Wort »Schitajon« auf Zwi Luria anzuwenden, auf humoristische, leichte und kreative Weise. Dieser Mann hilft in meinem Buch, das Problem der Palästinenser zu lösen, die illegal auf einem Hügel leben – und zwar durch einen Tunnel. Ich wollte damit auch sagen: Wir brauchen ein bisschen Demenz. Wir, die Palästinenser und die Welt im Allgemeinen.
Was meinen Sie damit?
Ich meine auch die Schoa. Wir sind zu viel damit beschäftigt, mit all der Wut, den Schrecken und den Ängsten. Wir sollten unsere Augen auf die Zukunft und ihre Möglichkeiten richten. Ich sage das auch den Palästinensern, die den ganzen Tag mit ihrer »Nakba« beschäftigt sind, dem Verlust ihrer Heimat 1948. Sie sind verletzt, sie wollen nach Hause zurückkehren. Aber die Welt ist kompliziert geworden, die Probleme der Zukunft sind real. Wir müssen nach vorne schauen, nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, was man uns angetan hat, und warum. Heute dreht sich in der Politik alles um Identitäten, um Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen. Ultraorthodoxe, Nationalreligiöse, Säkulare, Misrachim, Aschkenasim, Linke und Rechte. Es gibt zu viel Selbstbezogenheit, man richtet sich zu stark nach innen. Mein Buch heißt »Der Tunnel«. Wir brauchen mehr Verbindungen, mehr Tunnel zwischen den verschiedenen Identitäten.
Warum müssen die Verbindungen unterirdisch verlaufen?
Tunnel können Verbindungen schaffen, ohne Identitäten sofort zu erschüttern. Wenn man sich jemandem direkt gegenüberstellt, zum Beispiel ein Säkularer gegenüber einem Misrachi oder einen Religiö-sen, die heute sehr stark auf ihre Identität pochen, werden sie sich sofort auf aggressive Weise verteidigen. Ein Tunnel ist eine weiche, kreativere Art der Verständigung. Dadurch untergräbt man niemanden, sondern wird Teil seiner Identität.
Die Tunnel, die auf Initiative der Hamas vom Gazastreifen nach Israel gegraben werden, haben andere Ziele …
Diese Tunnel sind Ausdruck von Dummheit. Man will Soldaten kidnappen. Aber die Tunnel, über die ich spreche, sind ein Symbol für Beziehung, für die Fähigkeit, miteinander in Kontakt zu treten.
Wir müssen nach vorne schauen, nicht die ganze Zeit darüber nachdenken, was man uns angetan hat, und warum.
Der Nachname Ihres Helden erinnert an den bekannten Kabbalisten Isaak Luria aus dem 16. Jahrhundert.
Luria, in Israel ein verbreiteter Name, ist in meinem Buch der scheinbar Irrationale. Sein Gegenspieler, der Rationalist, heißt Maimoni – eine Anspielung auf den Philosophen Maimonides. Übrigens ist mir etwas Seltsames passiert. Nachdem das Buch schon erschienen war, habe ich erfahren, dass ein Mann namens Zwi Luria, ein Vertreter der politischen Linken, die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel mitunterschrieben hat – zusammen mit David Ben-Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten Israels, und vielen anderen Menschen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich meinem Helden natürlich einen anderen Namen gegeben. Zwi Luria mit seiner kreativen Demenz gibt der israelischen Realität, die mit ihren verschiedenen Identitäten so gewalttätig geworden ist, eine andere Wendung. Ich hätte nie gedacht, dass es innerhalb unserer Gesellschaft so viel Gewalt gibt, und sie bricht jetzt aus, auch auf Facebook und Instagram. All das wollte ich durch meinen Helden Zwi Luria etwas aufweichen.
Sie haben das »Aufweichen« in vielen Einzelheiten beschrieben – etwa, wenn Zwi Luria aus Versehen sechs Kilo Tomaten kauft und dann Berge von Schakschuka kocht. Woher kommen Ihnen diese Einfälle?
Ich hatte ein Modell für Zwi Luria, einen israelischen Schriftsteller, den ich sehr liebe: Jehoschua Kenaz. Er war ein sehr guter Freund von Amos Oz und von mir. Wir waren alle drei gute Freunde, wir haben uns oft mit unseren Familien zum Essen getroffen. Vor etwa fünf Jahren begann die Demenz von Kenaz, bei ihm war es genetisch bedingt, vonseiten seiner Mutter. Aber es gab dabei auch humoristische und liebenswerte Aspekte. Einerseits war er sich seiner Demenz bewusst, andererseits wieder nicht. Sein Umgang mit der Krankheit, als sie begann, hat mich zur Figur von Zwi Luria inspiriert. Jehoschua Kenaz hatte viel Humor, und das hat mir ermöglicht, ein sehr düsteres, trauriges und tragisches Thema mit viel Humor und Mitgefühl anzugehen.
Viele Szenen von »Der Tunnel« spielen in Krankenhäusern. Liegt das daran, dass die Frau von Zwi Luria Ärztin ist?
Es gibt in meinem Buch eine Szene im Beilinson-Krankenhaus in Tel Aviv, wo die Palästinenser aufs Dach steigen. In diesem Krankenhaus sind meine Frau und Amos Oz gestorben, und ich werde mich dort diese Woche einer Operation unterziehen. Meine Frau war Psychoanalytikerin und leitende Psychologin im Carmel-Krankenhaus in Haifa. Aber Krankenhäuser sind auch der Ort, wo Palästinenser und Israelis, Juden und Araber, auf die intimste Art zusammentreffen. Dort finden tiefe Begegnungen statt. Juden behandeln Araber, und umgekehrt. Das ist oft ein sehr tragischer, aber auch ein sehr menschlicher Kontakt. In Krankenhäuser werden Israelis gebracht, die von Palästinensern getötet wurden, und Palästinenser, die wir getötet haben.
Andere Teile der Handlung spielen im Süden des Landes ...
Ja, mir war es auch sehr wichtig, die Negevwüste zu beschreiben. Ein Teil unseres Konflikts, des Streits mit den Palästinensern um Gebiete, beruht darauf, dass die Hälfte von Israel in der Wüste liegt. David Ben-Gurion sagte einmal: »Im Negev entscheidet sich das Schicksal des Volkes Israel.« Ich habe einen großen Teil der Handlung dort angesiedelt, weil ich sagen wollte: Hier gibt es Gebiete und Möglichkeiten. Hier können wir etwas entwickeln. Hier müssen wir niemanden verletzen oder umsiedeln.
Mit dem israelischen Schriftsteller sprach Ayala Goldmann. A. B. Jehoshua: »Der Tunnel«. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Nagel und Kimche, Zürich 2019, 268 S., 24 €
Abraham B. Jehoshua wurde am 9. Dezember 1936 in Jerusalem geboren. Er gehört zu den beliebtesten Schriftstellern Israels. Sein Werk umfasst Erzählungen, Romane, Theaterstücke und politische Essays. Er diente bei der Fallschirmjäger-Brigade und kämpfte im Sinai-Feldzug. Jehoshua studierte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und an der Sorbonne in Paris. Mit seiner verstorbenen Frau, der Psychoanalytikerin Rivka, hat er drei Kinder. Seine wichtigsten Werke sind »Der Liebhaber«,»Späte Scheidung« und »Die Manis«.