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Zuwanderung

»Willkommen im Zoo!«

Im Sommer 2002 wurden wir Deutsche. Ohne Prüfung, zum Glück auch ohne auf dem Amt gestellte Fragen nach den Funktionen des Bundestages und Bundesrats. Meine Frau und ich mussten einfach nur einen Antrag stellen und erhielten nach kurzer Wartezeit jeder einen Personalausweis und einen Reisepass mit europäischen Sternchen. Als ich im Institut von unseren neuen Pässen erzählte, stieß ich auf eine befremdliche und befremdete Reaktion.

»Sehr schön, gratuliere: Willkommen im Zoo!«, sagte Dietrich Beyrau (mein Doktorvater) dazu. Er meinte natürlich: Willkommen im Zoo Deutschland. Denn, so seine Haltung: Wen interessieren schon diese nationalistischen Spiele mit der Staatsbürgerschaft? Und außerdem: »deutsch?!« Wie soll man nach dieser Geschichte ausgerechnet auf diese Staatsangehörigkeit stolz sein? Nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, die von Deutschland ausgingen, und nach dem Holocaust?

Ihm fehlte jeglicher Patriotismus, was auf mich recht befremdlich wirkte. Deutschland war ein schwieriges Land, doch sicherlich kein »Zoo«! Warum diese Rhetorik, was haben die denn alle? Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon zehn Jahre in Germanija lebte, verstand ich immer noch nicht, wie man dem eigenen Land so kritisch gegenüberstehen konnte. Heute, mit weiteren 15 Jahren Abstand, ist mir einiges klarer, und ich beginne, dieses distanziert-kritische Verhältnis zum eigenen Land – das ja inzwischen auch mein Land geworden ist – zu mögen.

Doppelpass Beyrau dachte vermutlich keine Sekunde darüber nach, was es heißt, die ukrainischen Pässe in der ukrainischen Botschaft zu verlängern, geschweige denn, sie an den diversen Grenzen zeigen zu müssen, sprich: kaum eine Chance zu haben, mit ihnen nach Amerika zu reisen. Deutscher zu sein, mochte belastend sein, lernte ich in der Theorie, aber es verlieh einem große Freiheiten – lernte ich in der Praxis.

Die moderateren Kollegen und Freunde begrüßten uns in Europa, nicht im anstrengenden Deutschland: »Du hast nicht (nur) die deutsche, du hast auch die europäische Staatsbürgerschaft bekommen, sei froh!« Dieses Gefühl hatte ich damals nicht, auch wenn ich höflich nickte. Zwischen Deutschland als einem Zoo und Europa als einem Paradies sollte es noch eine Mitte geben, doch die haben wir bis heute nicht gefunden. (…)

Europa und Amerika sind eine Festung, dieses Gefühl hatten wir 2000 noch sehr stark. Aber wenn man schon in dieser Festung lebte, dann sollte man sich auch damit arrangieren, fand ich, und begrub die letzten Reste meiner ohnehin nur noch schwach vorhandenen Rückkehrpläne. (…)

Manifest wurde unsere Entscheidung, endgültig in Deutschland zu bleiben, als Ljuda und ich unsere ukrainischen Pässe abgaben. Warum, fragten die Freunde, ist doch so schön, mehrere Staatsangehörigkeiten zu haben.

Dnepropetrowsk Ja, warum denn? Dafür gab es mehrere Erklärungen: Zum einen wollte ich meine Unentschiedenheit bezüglich meiner Religionszugehörigkeit nicht auch noch auf meine Staatsangehörigkeit übertragen: Ein Pass reichte. Zum anderen lebten auch meine Eltern seit mehreren Jahren in Deutschland; wenn ich sie sehen wollte, musste ich nicht mehr nach Dnepropetrowsk fahren, sondern nach Esslingen am Neckar.

Und noch ein weiterer Grund: Jahrelang waren wir nach Bonn, Frankfurt und München gependelt, wo man zu einer extrem frühen Morgenstunde vor der ukrainischen Botschaft beziehungsweise vor dem Konsulat anstehen musste, um uns dann mit der russischen oder ukrainischen Bürokratie herumzustreiten, weil dann doch wieder dieses oder jenes Papier fehlte. Diese Kämpfe wollten wir nicht mehr kämpfen.

Auch gab ich den ukrainischen Pass auf, weil mir auf dem Tübinger Bürgeramt klar signalisiert wurde: »Behalten Sie den ukrainischen Pass, solange Sie wollen, doch gehen Sie bitte davon aus, dass wir Ihnen keine juristische oder konsularische Unterstützung liefern, wenn Ihnen in der Ukraine etwas zustoßen sollte, denn Sie sind immer noch ukrainischer Staatsbürger.« Und die letzte Begründung: Schon vor einiger Zeit hatte ein riesiger Lkw vor unserer Haustür in Tübingen geparkt und eine Unmenge russischer Bücher aus der Ukraine zu uns gebracht: meine Bücher, meine portative Heimat, meine ewige Staatsbürgerschaft, die nun in Deutschland angesiedelt war – die neue Heimat konnte beginnen. (…)

Ljudas und meine Entscheidung für einen deutsch-europäischen Personalausweis und eine deutsche Staatsangehörigkeit war ein Novum in der jüdischen Geschichte der Bundesrepublik. Fast alle »alteingesessenen« Juden, die wir später kennenlernten, besitzen noch mindestens einen weiteren Pass. Entweder den alten aus ihrer ursprünglichen Heimat oder eine »Greencard« für Amerika, die zwar eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung dort erlaubt, jedoch systematisch verwaltet werden muss – die stolzen Greencard-Inhaber müssen sich regelmäßig in den USA blicken lassen, damit sie nicht verfällt. Wieder andere haben die israelische Staatsangehörigkeit, doch dann stellt sich die Frage des Militärdienstes für die Söhne und Töchter. (…)

Gorbatschow Doch mein Perestrojka-Bewusstsein erinnerte mich daran, wie glücklich wir, die 18-jährigen Studenten aus Dnepropetrowsk, waren, als 1988 plötzlich in einer Zeitung die Nachricht mit dem Titel stand: »Der Platz und die Kaserne können warten«; Gorbatschow befreite damals die Studenten von der Notwendigkeit, zwei Jahre zu dienen. Und zu diesem Zeitpunkt war die sowjetische Armee marode, korrupt und gefährlich und ihre Aufgaben – Tschernobyl, Afghanistan, kaukasische ethnische Konflikte – furchtbar.

Später kam dann noch die ukrainische Armee auf uns zu, und zwar in Form von zwei dauerbetrunkenen Obersten im Ruhestand, beides Afghanistanveteranen, die uns Geisteswissenschaftler zu den Leutnants der noch ärmeren ukrainischen Armee ausbilden sollten. Wir mussten dafür nicht dauerhaft dienen, sondern nur einmal pro Woche, an einem Dienstag, zu diesem seltsamen Kurs erscheinen.

Wir glaubten alle, dass es für immer vorbei war mit dem Krieg – doch wir sollten uns täuschen. Denn plötzlich mussten die alten sowjetischen Schützenpanzerwagen, die zu unserer Zeit ganz friedlich und ohne Benzin dastanden, wieder in Schuss gebracht werden und losfahren – 2014 rollten sie auf beiden Seiten des ukrainischen Bürgerkrieges. Ich, der Leutnant der ukrainischen Reserve, aus dem wohl nie ein Major wird, war ausgesprochen dankbar, nicht mit einem ukrainischen Personalausweis im sinnlosen Krieg kämpfen und an die baldige Einberufung meines Sohnes denken zu müssen. Die Alternativen zur alleinigen deutschen Staatsbürgerschaft sind also keine für uns.

Der deutsche Personalausweis markiert auch die für 300 Euro erkaufte Rückkehr meines Vornamens, diesmal mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Die Ukraine meinte, mich »Dmytro« nennen zu müssen. Sie fragte nicht, ob ich es will. Ob ich es bin. Sie ukrainisierte meinen Vornamen »Dmitrij« ebenso über Nacht, wie sie als Land entstanden ist. Ich fügte mich – Widerstand war in solchen Fällen zwecklos. »Dina de malkhuta Dina«, das Gesetz des Königtums ist Gesetz, diese talmudische Maxime habe ich früh gelernt und gleich verinnerlicht.

Entscheidung Da ich aber schlichtweg kein Dmytro bin, wechselte ich das Königtum und bezahlte die deutsche Verwaltung dafür, dass sie meinen Namen wieder in meinen Geburtsnamen änderte, also für eine Rückkehr zu meiner Identität – oder zur Entscheidung meiner Eltern, mich so zu nennen, wie ich heiße. (…)

Zehn Jahre nach dem Namenswechsel las ich Dieter Graumanns Bericht darüber, warum er plötzlich Dieter statt David hieß. Der ehemalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland war in Israel geboren und als kleiner Junge nach Deutschland gekommen. Seine Eltern sind Holocaust-Überlebende und wollten ihn im Frankfurt der Fünfziger schützen, indem sie ihm einen deutschen Namen gaben. Dieter Graumann leidet: Er sei ein David, kein Dieter!

Wir leben heute in einer anderen Zeit, in einem Deutschland, in dem gefühlt jeder zweite Junge David heißt und jedes dritte Mädchen Sarah. Alle werden irgendwie zu Juden und sind dabei überhaupt nicht jüdisch. Ich halte das für eine unreflektierte Mode, bei der der Wunsch, den »nationalen deutschen Zoo« mit all diesen germanischen Namen zu verlassen, auf das ewig-deutsche Thema der deutschen Schuld den Juden gegenüber trifft.

Gegen den totalen, allumfassenden deutschen Philosemitismus schützt man sich, denke ich, indem man bei sich bleibt. Bei seinen eigenen Vornamen. Ljudmila, Dmitrij. Bei dem Vornamen des Großvaters Mark, der Name, den unser Sohn trägt: Mark mit K. Der von uns ausgewählte Name »Mark«, der in der Sowjetunion als ein jüdischer Name galt und sonst international ist; sowie unsere zurückerkauften Namen in den neuen Personalausweisen unseres neuen Landes – alles eine teure, weil kostenpflichtige, Rückkehr zu uns selbst.

Germanija Als einen Zoo habe ich Deutschland auch damals nicht empfunden, eher als etwas, dem ich fremd war und das mir fremd war und das mich zunehmend zu interessieren begann; und auch ein wenig als ein strukturiertes Paradies, in dem Menschen nicht unbedingt glücklich werden – meine Mutter mit ihrer These über eine »Langeweile im Paradies« ließ grüßen und Stella aus Reutlingen auch: »Schauen Sie, kaum glückliche, gesunde Gesichter hier.«

Doch »strange«, »unmöglich«, »typisch deutsch«, wie meine schon lange in Germanija lebenden jüdischen Freunde und die Alt-68er dieses Land sehen, empfinde ich es auch heute nicht. Solche Etiketten mochte ich nie, auch nicht zu der Zeit, als ich nur schnell wieder weg wollte, um den untergegangenen Dampfer namens UdSSR zu retten.

Aus meinem distanzierten Respekt und einer doch großen anfänglichen Fremdheit entstand langsam so etwas wie Zuneigung, ein emotional etwas diffuses und zugleich konkretes und sachliches Heimatgefühl. Ein amtliches Heimatgefühl – falls es so etwas gibt, schließlich spielte der deutsche Pass in diesem Prozess eine durchaus wichtige Rolle. Es war sicher keine Liebe auf den ersten Blick, aber der lange Weg bis hierher hat sich gelohnt, denn nun kann eine tragfähige Verbindung daraus entstehen.

Der Text ist ein Auszug aus Belkins Buch »Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde«. 

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