Jom Haschoa

Willkommen im »Tätervolk«

Jüngere Deutsche bekommen oft ein Problem mit der deutschen Geschichte, wenn sie auf sich selbst stolz sein wollen. Foto: imago

Nachdem ich 1994 aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland als jüdischer Kontingentflüchtling gekommen war, habe ich lange mit der Entscheidung zur Einbürgerung gewartet. Ich wollte es nicht pragmatisch, sondern bewusst angehen. Als ich dann 2006 meinen deutschen Pass bekam, sah ich die Welt etwas anders als davor, ich glaube, ich verhielt mich von nun an auch anders.

Eine markante Geschichte passierte auf dem Weg meiner Integration im vergangenen Jahr in Neapel. Ein Taxifahrer wollte wissen, wer wir seien, seine Fahrgäste. Meine Frau und ich stellten uns als »deutsche Touristen« vor, die nur für nur zwei Tage in der Stadt seien. Prompt antwortete die freundliche Stimme: »Hitler war hier auch nur vier Tage«.

Ich lachte darüber lange und herzlich. Und dann, mit einem Schlag, wurde es mir bewusst: In dem Moment bin ich ein Deutscher geworden. Am eigenen Leib habe ich erlebt, wie es ist, im Ausland als Deutscher wahrgenommen zu werden. Ich war dem Taxifahrer nicht böse, ich war nicht beleidigt, ich fand es im Gegenteil sehr lustig.

Kollektiv Im Nachhinein ist mir später noch etwas über mich klar geworden. Ich konnte darüber lachen, weil ich mich keinem Kollektiv zurechne, eigentlich nie und in keiner Weise. Ich war und bin immer ausschließlich ich selbst. (Ob das eine jüdische Eigenschaft ist?) Ich hoffe, das ermächtigt mich, den Blick auf die deutschen Befindlichkeiten zu schärfen, die unter dem Begriff »Deutsche Schuld« immer noch im Nebel stecken.

Im Unterricht werde ich oft zu der ach-wie-geheimnisvollen-und-ewig-rätselhaften russischen Seele gefragt. Das wundert mich immer, da ich solche Figuren wie Oblomow auch in der deutschen Literatur kenne. Seit meiner Pubertät fand ich Heinrich Bölls Billard um halb zehn besonders stimmungsvoll und ansprechend.

Ich konnte nur ahnen, aber nicht so richtig begreifen, woher der krasse Widerspruch kommt, in dem die spezielle Traurigkeit, die Melancholie und Untätigkeit der Protagonisten und die wirtschaftliche und politische Agilität des Landes zu der Entstehungszeit des Romans stehen. Ist das eine geheimnisvolle deutsche Seele, die daraus spricht?

opportunismus Die Antwort auf diese Fragen fand ich erst jetzt, und zwar bei Alexander und Margarete Mitscherlich, direkt auf das Buch von Böll bezogen: »Als Held bleibt (…) ein unschuldiger, meist passiver Mensch zurück, der nur als Einsamer in resignierendem Rückzug als durchaus private, unverpflichtete Existenz das Leben unter seinen opportunistisch gewandten Landsleuten zu ertragen vermag. (…) Solche edle Helden sind wir aber meist gar nicht. Aus der Tatsache, dass wir keinen ins Gewicht fallenden Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, kann nicht gefolgert werden, dass wir dazu absolut nicht imstande gewesen wären.«

Merkwürdig nur, dass das nicht von einem Literaturhistoriker, sondern von Vertretern der Psychoanalyse formuliert wurde. Die Psychoanalyse kann allerdings nur eine Hypothese aufstellen, die argumentierten Beweise können nur von der Geschichtsforschung kommen. Götz Aly hat in seinem bahnbrechenden Buch Hitlers Volksstaat mehrfach aus den Briefen Bölls und aus den Erinnerungen von Siegfried Lenz zitiert.

Die Briefe belegen den Raub, an dem sich Soldaten und Offiziere der Wehrmacht beteiligten, und zeigen auch die Keime der Verarbeitung, da Böll und Lenz fähig waren, zu reflektieren. Päckchen, die von ganz Europa nach Deutschland gingen, haben maßgeblich zur Unterstützung des Kriegs im Inneren Deutsch- lands beigetragen und zur Verwicklung der Familien, das soll heißen, der überwiegenden Mehrheit der Deutschen, in den Massenraub.

Bei der Auswertung der zahlreichen Briefe, die Götz Aly bei der Vorbereitung seines Buchs bekam, musste er feststellen: »Während die Frauen wirklichkeitsnah erzählten, bestritten die Männer ausnahmslos, jemals auch nur ein Feldpostpäckchen versandt zu haben.«

verleugnung Warum wurde gelogen und verdrängt? Was geschah mit der Erinnerung? Welche Mechanismen der eigenen Vergangenheitsbewältigung waren hier wirksam? Wenig goutiert wird die These von Alexander und Margarete Mitscherlich, die mit dem berühmten Buchtitel über die Unfähigkeit zu trauern in die Geschichte einging.

Die Schärfe ihrer ursprünglichen Ausformulierung ist verloren gegangen. Heutzutage versteht man darunter in etwa die Unfähigkeit, über die jüdischen Opfer zu trauern. Ursprünglich aber meinten Mitscherlichs etwas anderes, nämlich die versäumte »Trauer um den geliebten ›Führer‹«. Dementsprechend sahen sie in der Wahrnehmung der Kriegsniederlage ein kollektives Trauma, »dem mit der Derealisierung und der Leugnung der Vergangenheit begegnet wurde«.

Genau diese Ignoranz hat später Ralph Giordano als »zweite Schuld« bezeichnet. Sein durch und durch empörtes Buch von 1987 war aber nicht der einzige Versuch, die These von der Kollektivschuld am Leben zu halten. Genauso beschrieb auch Bernhard Schlink das Thema in seinen juristischen Aufsätzen 20 Jahre später.

In der Logik der Generationenfolge darf man das in der Überspitzung wohl so verstehen: Die Tätergeneration entnazifiziert sich mit einer berauschenden Leichtigkeit, die zweite Generation begrüßt Martin Walsers »Moralkeulen«-Rede in der Frankfurter Paulskirche 1998 mit Standing Ovations und zwingt Ignatz Bubis zur Versöhnung mit dem »geistigen Brandstifter«.

floskeln
Giordano sieht allerdings nicht die schizophrene Spaltung des Zeitgeistes, denn zu gleicher Zeit entsteht eine Konjunktur des Jüdischen, das Lieblingsthema von Henryk Broder. Es erscheinen unzählige »Kostümjuden« mit erfundenen jüdischen Biografien. Lea Rosh redet vom »Volk der Täter«. Es entbrennt eine riesige Goldhagen-Debatte. Mal wird die Kollektivschuld anerkannt, mal wird sie abgelehnt. Am besten, wenn sie nur die Tätergeneration betrifft, die in der Vergangenheit verortet wird. So wird verdrängt, dass anstelle einer Verarbeitung eine Verdrängung vonstatten ging.

Nehmen wir als Beispiel ein Interview mit dem Regisseur des Films Der Untergang Oliver Hirschbiegel von 2004: »Als Volk haben wir eine Schuld auf uns geladen, die wir nie werden tilgen können. Aber wir müssen anders damit umgehen. (…) Wir werden uns nie von dieser Schuld reinwaschen können. Wir brauchen dennoch eine neue Haltung und eine nationale Identität. Sonst stagnieren wir auch kulturell.

Mit diesem Film fällt es mir leichter zu sagen, dass ich ein Deutscher bin – und dass mir das nicht peinlich ist.« Hirschbiegels Überlegung hat viele logische Lücken. Er beginnt mit der ewigen Kollektivschuld und endet mit der Sublimierung. Das »wir« seiner Aussage ist diffus und ändert seine Konnotation mehrmals. Zumindest findet er zum Schluss noch zum »Ich« der eigenen Positionierung, die aber genauso enttäuschend ist. Der peinliche Film ist ihm nicht peinlich. Denn um sich nicht zu schämen, ein Deutscher zu sein, braucht er ihn.

Dieser merkwürdige Duktus, von »unserer Schuld« mit hohem Pathos zu reden, ist inzwischen ein Attribut nicht nur politischer Reden, sondern der allgemeinen Floskelsprache. Ein kleines Beispiel aus Bremen: Zwischen der Hansestadt und Haifa besteht eine Städtepartnerschaft, es werden Schülergruppen ausgetauscht. Die Bremer Politiker und Lehrer bestehen dabei darauf, dass die Schüler aus Israel unbedingt nach Bergen-Belsen fahren müssen. Auf die Frage, warum das sein muss, bekam ich prompt eine klare Antwort, und zwar, »weil es unsere Schuld ist«.

abwehrreaktion
Die gedankenlose Übernahme der Formeln von »unserer Schuld«, »deutscher Schuld« mit allen weiteren Varianten, hat allerdings als Konsequenz, dass die Fixierung der individuellen Scham auf die Vergangenheit zu individueller Abwehrreaktion und Retraumatisierung führt. Wissenschaftliche Umfragen aus den vergangenen Jahren zeigen, dass jüngere Deutsche oft ein Problem mit der deutschen Geschichte bekommen, wenn sie auf sich selbst stolz sein wollen.

Dem steht dann der Holocaust im Wege, der Jude, der Staat Israel, all das, was an die Nazizeit erinnert. Das führt offensichtlich zu einer renitenten Gegenwehr und zu Antisemitismus. Es gibt dabei keine Unterschiede in Herkunft und Bildung und nur geringfügige Unterschiede zwischen den links-, mitte- und rechtsorientierten Personen. So stimmten 2010 beispielsweise Prozent der Befragten einer Studie der Aussage zu: »Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig.« Diese Zahl beweist, dass alle Beteuerungen über die gelungene Vergangenheitsbewältigung auch eine Schamlüge sind.

Es ist ein Fehler, über die »Schuld« der heutigen Generation für die Vergangenheit zu sprechen. Ein Fehler didaktischer, erzieherischer, rhetorischer Art. Wir, die Deutschen von heute, sind nicht mehr die Deutschen von gestern. Statistisch nicht, auch mental nicht. Ein stärkeres Selbstbewusstsein würde auch mehr Selbstverantwortung erzeugen und die Fähigkeit, die negativen Seiten der Geschichte leichter zu verarbeiten, sowohl im Allgemeinen als auch im familiären Umfeld.

Ich meine das Selbstbewusstsein nicht der Nation, sondern das der Individuen. Ich meine eine Selbstverantwortung, die in eine konkrete, bewusste ethische Handlungsweise in der Gesellschaft wie im Privaten als einzig mögliche Haltung mündet.

verantwortung Eine deutsche Lehrerin schrieb in einem Internetforum unter dem Nicknamen »Buerste«: »Es gehört manchmal schon eine gewisse Stärke dazu, die Wahrheit auszuhalten, besonders dann, wenn die Wahrheit lautet, dass in MEINEM Land und im Namen MEINES Volkes die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen wurden.

Es ist wahrlich nicht ganz einfach – für niemanden –, das zu verarbeiten, aber es muss nun mal sein. Wenn du diese Stärke nicht aufbringst, dann hast du in der Tat ein Problem – nur: es ist DEIN Problem, verstehst du?! Mach bitte niemand anders dafür verantwortlich als dich selbst!« Ich wünschte, es gäbe mehr Lehrer von dieser Sorte.

Grigori Pantijelew, geboren 1958 in Moskau, arbeitet als Dirigent und Musikdozent in Bremen und ist stellvertretender Vorsitzender der dortigen Jüdischen Gemeinde.

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