»Intonations«

Wiener Klassik

Im vergangenen Jahr noch mit Publikum: Intonations-Konzert im Jüdischen Museum Berlin Foto: Monika Rittershaus

Wenn man die Augen ein bisschen zukneift, kann Berlin sich in ein kleines Utopia verwandeln. Freundlich entspannt sind die jungen Gesichter der arabischstämmigen Jugendlichen, die am herrlichen Sonntagmorgen im Garten des Jüdischen Museums Berlin auf ihre Führung warten und dabei ihre WhatsApp-Nachrichten checken, unter herüberwehenden Klangfetzen von Brahms: Denn das Klavierquartett, das gleich im Glashof des barocken Kollegienhauses auftreten wird, spielt sich noch bei offenem Fenster im Künstlerraum warm. Wer sich bei den am Wochenende eröffneten »Intonations« aufs Programm vorbereiten will, der braucht kein Youtube, er kann einfach etwas früher kommen und im Museumsgarten bei einem Glas Weißwein ins Programm reinhören.

Das ist typisch für den familiären Charakter dieses Kammermusikfestivals, das heuer (sic, denn das Grundthema ist Wien) zum achten Mal stattfindet. Etwas verschlankt, mit sechs Konzerten. Dass diesmal die ganz großen Namen wie Argerich oder Radu Lupu fehlen, schadet vielleicht der Zugkraft, aber keinesfalls dem Niveau. Denn das Zusammenspiel an diesem Sonntagmorgen ist vorzüglich, weit besser, als es mit einem Weltstar sein könnte, der mit viel gutem Willen, aber wenig Zeit vorbeigereist kommt.

Einige chromatische Klavierläufe im Finale haben bei Mangova eine délicatesse, als wär’s Chopin.

WALZER Was hat dieser Arnold Schönberg nicht alles getrieben, denkt man fasziniert, wenn man sein charmantes Kammerensemble-Arrangement des Kaiserwalzers von Johann Strauß dem Jüngeren hört, eingerichtet 1925, parallel zur Ausrufung der Zwölftontechnik. Gute »Intonations«-Bekannte sind unter den sieben Musikern, etwa die Philharmonikerin Madeleine Carruzzo an der Bratsche oder der schwedische Cellist Frans Helmerson. Auch ein junger Pariser Geiger namens Mohamed Hiber ist dabei. Und natürlich die Pianistin Elena Bashkirova, deren klarer Ton durch den Walzer perlt wie ihr guter Geist durchs Festival: Denn ohne die Künstlerische Leiterin und mütterliche Überallgeistin ginge nichts bei diesem blütenreichen Seitenzweig des Jerusalem International Chamber Music Festival.

In Robert Schumanns Liederkreis begleitet Bashkirova den Staatsopern-Bariton Roman Trekel, dessen beeindruckend genaue Diktion einen stets aufs Neue verblüfft: ein Sänger zum Mitlesen. Sein gelegentlich leicht unterkühlter Eindruck ist ein gutes Gegengewicht zum romantischen Überschuss der Lieder voller Waldeinsamkeiten und schauerlicher Waldesgespräche. Einen ähnlich hohen Waldfaktor und eine Sehnsuchtsquote wie der Kaiserwalzer hat Johannes Brahms’ Horntrio, bei dem dann nicht Bashkirova, sondern die junge Nathalia Milstein am Klavier sitzt. Den warmen, weichen Hornton von Ben Goldscheider trägt die Luft des Glashofs ganz vortrefflich.

Wien ist ein Utopia. Wenn man die Augen ein bisschen zukneift und dafür Ohren und Herzen öffnet.

Ansonsten muss manchmal von der wunderbaren Atmosphäre wettgemacht werden, was an Konzertsaal-Akustik fehlt (zumal wenn man hinten sitzt oder am Rand, wo das permanente Küchengeklapper von draußen stört). Und natürlich von dem vollen Herzen und der hohen Kompetenz der Musiker! Brahms’ 3. Klavierquartett in c-Moll steht am Schluss des Programms, ein Muster an lebendigem gemeinsamen Musizieren, auch und gerade in den lyrischen Passagen dieses aufgewühlten, aufwühlenden Werks, eines streng formbewussten Vulkans.

FINALE Berührend ist der seelenübervolle Ton der Streicher Anton Barakhovsky, Adrien La Marca und Tim Park im Andante. Die prägnant und klangschön spielende Pianistin Plamena Mangova widerlegt en passant Schönbergs Behauptung, in Brahms’ Klavierquartetten würden die Streicher meist vom Pianisten übertönt.

Einige chromatische Klavierläufe im Finale aber haben bei Mangova eine délicatesse, als wär’s Chopin. Selbst der hat also Platz an diesem Tisch, wo bereits Strauß-Sohn und Schönberg einträchtig beieinander sitzen: lauter musikalische Weltreligionen in trauter Harmonie. Wien ist ein Utopia. Wenn man die Augen ein bisschen zukneift und dafür Ohren und Herzen öffnet.

Intonations – Das Kammermusikfestival im Jüdischen Museum Berlin, 6. bis 11. April. www.jmberlin.de/intonations

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