So umstritten es angesichts der Corona-Zahlen sein mag: Es ist ein Statement für die Kultur und vor allem für das Kino, dass die 72. Berlinale in Präsenz stattfindet. Die rauchenden Köpfe des künstlerischen Leiters Carlo Chatrian und seiner Co-Leiterin Mariette Rissenbeek kann man sich nur zu gut vorstellen. Aber: »Wir können das Festival nicht digital stattfinden lassen. Die Filme, die wir haben, wurden fürs Kino produziert«, sagte Geschäftsführerin Rissenbeek in einem Interview mit der »Berliner Zeitung« selbstbewusst als Reaktion auf die Kritik am Festhalten des Präsenzfestivals.
Im vergangenen Jahr fand das deutsche A-Festival zweigeteilt statt, erst für die Branche, dann für das Publikum – auch gefühlt eher halb als ganz. Viele Festivals haben im Laufe des Jahres auf hybride Konzepte gebaut, »Sundance« ging vergangenen Monat komplett digital an den Start.
HYGIENEKONZEPT Die diesjährige Berlinale vertraut auf ein strenges Hygienekonzept: Zugang haben ausschließlich Geboosterte und doppelt Geimpfte mit tagesaktuellem Corona-Test, nur die Hälfte der Sitzplätze in den Kinosälen darf belegt werden, Feierlichkeiten wurden abgesagt. Auch das Programm wurde um ein Fünftel im Vergleich zu 2020 abgespeckt, 256 Lang- und Kurzfilme werden in neun Sektionen gezeigt.
Die Anzahl an Produktionen von Juden oder zu Themen rund um die jüdische Identität beziehungsweise Israel lassen sich an zwei Händen abzählen, sind aber quer durch die Sektionen und Formate vertreten.
Am prominentesten fällt Les passagers de la nuit des französischen Regisseurs Mikhaël Hers ins Auge, der im Wettbewerb um die Bären antritt. Mit Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle erzählt das Drama von einer alleinerziehenden Mutter im Frankreich der 80er-Jahre, die sich einer ziellosen Jugendlichen (Noée Abita) annimmt.
Einige Filme laufen im Berlinale Special. Das Historiendrama Der Passfälscher wurde vom Filmverleih X-Film mit folgenden Worten angekündigt: »Berlin 1942. Cioma Schönhaus lässt sich weder seine Lebensfreude nehmen noch von irgendjemandem einschüchtern – schon gar nicht von den Nazis!« Regisseurin Maggie Peren hat sich der Geschichte des jungen Juden angenommen, der als »U-Boot« in den 40er-Jahren in Berlin überlebte.
Der Film, eine Weltpremiere, zeichnet die Verfolgungssituation, aber auch die Abenteuerlust nach, mit der Schönhaus (Louis Hofmann) die Identität eines Marineoffiziers annimmt, sich mit gefälschten Papieren als Jude in Berliner Restaurants setzt und sich unter nichtjüdische Deutsche mischt. Vorlage war Schönhaus’ Buch Der Passfälscher. Die unglaubliche Geschichte eines jungen Grafikers, der im Untergrund gegen die Nazis kämpfte.
HISTORIENDRAMA Inwiefern Perens Film mit dem Doku-Drama Die Unsichtbaren – Wir wollen leben (2017) von Claus Räfle vergleichbar ist, das mehrere Schicksale von Untergetauchten und auch die Geschichte von Schönhaus (in dessen Rolle: Max Mauff) nacherzählte, können die Zuschauer mit einem Blick in die Mediathek von 3sat beurteilen, wo Räfles Film noch bis zum 10. März zu sehen ist.
Die Karriere des Fotografen Micha Bar-Am wird im Berlinale Special beleuchtet.
Sechs der 15 Filme im Berlinale Special sind dokumentarische Formen, darunter auch die israelisch-britisch-amerikanische Produktion 1341 Framim Mehamatzlema Shel Micha Bar-Am (1341 Bilder von Krieg und Liebe) von Ran Tal und die AfD-Doku Eine deutsche Partei von Simon Brückner. Ersterer erzählt von der Karriere des 1930 in Berlin geborenen israelischen Fotografen Micha Bar-Am, der historische Ereignisse als Chronist der Geschichte Israels für immer festgehalten hat: den Eichmann-Prozess 1961, den Sechstagekrieg 1967, den Jom-Kippur-Krieg 1973 oder das Massaker von Sabra und Schatila 1982.
Für seinen AfD-Film haben Brückner und ein Zwei-Mann-Team zwischen 2019 und 2021 zahlreiche AfD-Politikerinnen und -Politiker mit der Kamera begleitet. Ein schmaler Grat, denn der Filmemacher kommentiert nichts, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die Beobachtung der Arbeit von Funktionären auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene.
PARTNERSCHAFT Nicht zum ersten Mal bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin zu Gast ist der israelische Regisseur Idan Haguel. 2016 zeigte die Sektion Forum seinen Spielfilm Inertia. Nun läuft in der Sektion Panorama sein Spielfilm Concerned Citizen über Ben und Raz, ein schwules Paar, das im Süden Tel Avivs lebt – in einem Viertel, in dem auch viele Flüchtlinge aus Afrika ein vorläufiges Zuhause gefunden haben.
Die beiden Männer haben beschlossen, Eltern zu werden, und sind schon dabei, eine Leihmutter und eine Eizellspenderin auszusuchen – doch dann geschieht etwas, das Bens liberale Weltsicht ins Wanken bringt: Konfrontiert mit Polizeigewalt gegen einen Flüchtling aus Eritrea direkt vor seiner Haustür, entdeckt er ungeahnte Abgründe in sich selbst. Der Film schildert einen inneren Konflikt, der die Partnerschaft tief erschüttert. Die Schauspieler Shlomi Bertonov und Ariel Wolf, die die Rollen von Ben und Raz übernommen haben, sind übrigens auch im wirklichen Leben ein Paar.
In der Sektion Panorama Dokumente feiert Magnus Gerttens Dokumentarfilm Nelly & Nadine Weltpremiere. »Nadine, wird das jemals ein Leben für uns sein?«, lautet einer der Sätze, den Sylvies Großmutter Nadine während ihrer Zeit im KZ Ravensbrück in ihr Tagebuch notierte. Der schwedische Filmemacher folgt der Enkelin bei einer intimen Reise in die Vergangenheit, die ihren Anfang nimmt in einer Truhe voll alter Briefe und Fotos der Großmutter.
nazigräuel Mit Fotografien, Super-8- und Audioaufnahmen sowie den poetischen und erschütternden Tagebucheinträgen von Nelly erzählt der Film vor dem Hintergrund der Nazigräuel von einer lesbischen Liebe zwischen Opernsängerin Nelly und der geheimnisvollen, burschikosen Nadine.
Im Forum der Berlinale läuft die Dokumentation Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors über die Vita der beiden legendären Filmvermittler Erika und Ulrich Gregor, unter anderem auch mit einem Rückblick auf Claude Lanzmanns Film Shoah als Berlinale-Großereignis der 80er-Jahre.
In Daniel Burmans Serie geht es um einen Spion in der jüdischen Gemeinde von Buenos Aires.
Die Perspektive Deutsches Kino wird in diesem Jahr mit Wir könnten genauso gut tot sein, dem Debüt der 1989 in Sankt Petersburg geborenen und an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ausgebildeten Natalia Sinelnikova, eröffnet. Eine Gesellschaftsparabel zwischen Sozialsatire, Thriller und absurdem Drama: Die sicherheitsfanatische Hausgemeinschaft eines Hochhauses schottet sich vor der Außenwelt ab, wer sich (auch vermeintlich) »unsozial, unmoralisch und unüberlegt« – ein Mantra des Films – verhält, wird sanktioniert.
DEBÜT Erzählt wird der Film aus Perspektive der polnisch-jüdischen Sicherheitsfrau Anna (Ioana Iacob), deren Tochter sich im Badezimmer einsperrt, weil sie meint, den bösen Blick zu haben.
Es erinnert an Yorgos Lanthimos’ Dogtooth, wie Sinelnikova einen leicht verschobenen Gegenraum aufmacht, in dem sich unsere Wirklichkeit spiegelt. Wir könnten genauso gut tot sein ist auch ein Film über die Macht der diffusen Angst, denn als ein Hund spurlos verschwindet, gehen einige Hausbewohner auf die Barrikaden.
In der Seriensektion ist Iosi, el espía arrepentido (Yosi, the Regretful Spy) des argentinischen Regisseurs Daniel Burman zu sehen, der auf der Berlinale 2004 für seinen Spielfilm El abrazo partido (Lost Embrace) über jüdisches Leben in Buenos Aires mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
THRILLER Sein neuer, gemeinsam mit Sebastián Borensztein realisierter achtteiliger Thriller – die ersten drei Teile laufen als Weltpremiere in Berlin, anschließend läuft die Serie in mehr als 240 Ländern auf Amazon Prime – basiert auf einer wahren Geschichte nach dem gleichnamigen Buch der argentinischen Journalisten Miriam Lewin und Horacio Lutzky.
Ein junger Mann aus einer Provinzstadt wird als Geheimagent in die jüdische Gemeinde in Buenos Aires eingeschleust. Verschwörungsmythen vom angeblichen Plan »der Zionisten«, aus der Region Patagonien einen weiteren jüdischen Staat zu machen, treffen bei dem jungen Agenten auf fruchtbaren Boden. Aus José wird Iosi Perez, der Hebräisch lernt und als Sänger des Gemeindechors sogar in die israelische Botschaft vordringt.
Was José alias Iosi aber nicht weiß: Er ist nur ein Werkzeug zur Vorbereitung der blutigen Terroranschläge auf die israelische Botschaft 1992 und das Kulturzentrum AMIA 1994 in der argentinischen Hauptstadt, die bis heute in der jüdischen Gemeinschaft des Landes traumatisch nachwirken. Von Reue gequält, versucht Iosi anschließend, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – wobei unter anderem auch Tefillin zum Einsatz kommen.
Es bietet sich ein diverses Bild in diesem Jahr: Von »klassischen« Themen wie Holocaust und Antisemitismus über Genre- und gegenwartspolitische Filme bis hin zur Gesellschaftsparabel ist alles dabei. Und auch die Film- und Videokunstinteressierten werden fündig: In der Sektion Forum Expanded, dem vom Arsenal kuratierten und organisierten unabhängigen Programm präsentiert Maya Schweizer ihre 18-minütige Videoinstallation Voices and Shells. Liz Rosenfelds Kuppelprojektion White Sands Crystal Foxes ist im Zeiss-Großplanetarium im Prenzlauer Berg zu sehen.