Poesie

Wie Rilke nach Colombo kam

»I’m still a Kofferwoman.« Anne Ranasinghe lächelt, fährt mit den Fingern über ihre Halskette und drückt dann einen kleinen weißen Schalter auf dem Schreibtisch. Wenige Sekunden später tritt eine Hausangestellte ins Zimmer, verbeugt sich vor dem Gast, schaltet den Ventilator ein und räumt die übrig gebliebenen Curry-Beignets fort. »Auch das war etwas, was ich hier in Colombo erst lernen musste – dauernd von Personal umgeben zu sein. Und das als ehemalige Krankenschwester, die den Bombenkrieg in London erlebt hatte.«

kindertransport Anne Ranasinghe ist 85 Jahre alt und Sri Lankas berühmteste Dichterin, geehrt mit den höchsten Auszeichnungen des Inselstaates im Indischen Ozean, der früher Ceylon hieß. Geboren aber wurde sie 1925 in Essen als Anneliese Katz. Ihre gesamte engere Familie wurde in der Schoa ermordet; sie selbst überlebte nur, weil man sie 1939 zu einer Tante nach England geschickt hatte. Mitgebracht aus Deutschland hatte die 14-Jährige die Erinnerung an die brennende Synagoge in Essen in der Pogromnacht vom 9. November 1938. »Ich höre immer noch die eisernen Absätze, ihr widerhallendes Stampfen / Schmecke immer noch den winterlich kalten Geschmack, / Verbranntes Holz und Angst um Mitternacht. / Ich weiß, / Dass nichts unmöglich ist, / Dass alles möglich ist, / Dass es weder in Häusern noch in Worten Sicherheit gibt, / Dass Grenzen theoretisch sind / Und Liebe relativ ist zu der Wahl, zu der du gezwungen bist.«

Das Gedicht ist auf Deutsch im Maro-Verlag erschienen, aus dem Englischen übersetzt, der Sprache, die für Anne Ranasinghe nach 1939 eine Art neue Heimat wurde. Auch mit mir spricht sie Englisch. Nur gelegentlich taucht das eine oder andere deutsche Wort auf: Brotaufstrich, Birnenbaum, Zwetschgenkuchen – Geborgenheit suggerierende Synonyme für eine bildungsbürgerlich behütete, die Dichterin sagt, »ziemlich konservative« Kindheit unter dem strengen, aber gerechten Blick des frommen Vaters, eines hochdekorierten Weltkriegsveteranen. »1941 aber wurden meine Eltern ins Ghetto Lodz deportiert und drei Jahre später in Chelmno vergast.«

Anne Ranasinghe sagt: »Bei all dem hatte ich ja Glück: Ich wurde in die Welt hinausgetrieben. In London lernte ich meinen späteren Ehemann, einen jungen Arzt, kennen, mit dem ich dann nach Ceylon ging. Er war gerade geschieden und hatte bereits Kinder, später wurde auch ich viermal Mutter – alles nicht ganz leicht. Aber was für ein Geschenk neuer Wirklichkeiten!«

rilke Wir sitzen in Anne Ranasinghes gediegenem Haus in Colombo Seven, dem Nobelviertel der srilankischen Hauptstadt. Auf dem Weg hierher hatte plötzlich heftiger Monsunregen eingesetzt und die Motorikscha ins Schlingern gebracht, mit der ich fuhr. Während es vom Himmel grell blitzte und die Hitze nicht nachließ, saß ich schwitzend und durchnässt auf dem notdürftig überdachten Rücksitz des halsbrecherisch durch Colombo kurvenden Mini-Fahrzeugs und las Ranasinghes Übersetzung von Rilkes berühmtem Poem Herbsttag: »Lord, it is time. The summer bore high yield. / Now cast your shadow on the sun dial, / Release the winds across forest and field.«

»Das habe ich ganz gut hingekriegt, oder? Machen Sie mir mal ein Kompliment, junger Mann!« Anne Ranasinghe ist jetzt geradezu überraschend kokett und aufgekratzt. »Doch im Ernst: Es hatte Jahre gebraucht, bis ich wieder deutsch lesen konnte und Lust auf Übersetzungen verspürte. Immerhin war es die Sprache meiner Familie – und ihrer Mörder.«

Eine Reise nach Deutschland 40 Jahre nach ihrer Flucht hatte eher ambivalente Eindrücke hinterlassen, auch die Umtriebigkeit christlich nächstenliebender Aufarbeitungs-Profis in ihrer einstigen Heimat sieht die illusionslos ironische alte Dame eher mit Distanz. Doch durch die Zusammenarbeit mit dem nahe gelegenen Goethe-Institut in Colombo kam es wenigstens zu einer Wiederbegegung mit der deutschen Sprache – und zu so wunderbar verspielt-leichten Versen wie in Anna Blumes Antwort auf Kurt Schwitters: »It’s absurd to think you can win a girl like mir / by calling me ›simple‹ and ›ein grünes Tier‹.«

vorsicht Anne Ranasinghe fühlt sich zu Hause in Sri Lanka. Nicht ohne Stolz zeigt die Dichterin auf die Goldene Trophäe des State Literary Award, die sie 2007 als höchste Auszeichnung des Landes für ihr Lebenswerk erhalten hat. Aber sie hat aus ihrem Leben gelernt, keine Sicherheit als gegeben misszuverstehen, auf alles vorbereitet zu sein, selbst im hohen Alter noch. Als ich sie besuchen kam, war die Poetin gerade damit beschäftigt gewesen, Artikel aus der Zeitung auszuschneiden, »clippings« als Antidot gegen böse Überraschungen. Mir fiel ihr Gedicht vom schweigsamen Mann im »Schatten meines blütenbeladenen Araliyabaums« ein, der – anfangs scheinbar harmlos – ein Seil aus Jutefasern knüpft: »Es wird länger und länger. Jeden Tag / (…) Und niemand weiß, / wann sich das Grauen wiederholen wird.«

Gewiss, Antisemitismus kennt man in Sri Lanka nicht. »Jüdisch«, wurde Anne Ranasinghe einmal gefragt, »welche Art Christentum ist denn das?«. Andererseits: Schon zweimal hatte in der Vergangenheit die Regierung unter dem Druck der PLO die kleine israelische Botschaft schließen lassen. »Da zerbrach erneut etwas, und so war ich bald wieder die einzige Jüdin auf der Insel«, erinnert sie sich. »Immerhin«, und wieder ist da dieses beinahe schelmische Lächeln, »habe ich meine israelischen Freunde, die gerade ihre diplomatische Immunität verloren hatten, in meinem Auto zum Flughafen kutschiert und dann jahrelang die Flagge mit dem Davidstern aufbewahrt, hier im Haus. Irgendwann kamen sie zurück, denn die Regierung hatte bemerkt, dass der doppelzüngige Arafat sich nicht um Sri Lankas Neutralität gesorgt hatte, sondern im Gegenteil heimlich die militanten Tamilen unterstützen ließ.«

Es ist spät geworden, als wir uns verabschieden. Draußen hat der Monsunregen nachgelassen. Die Hausangestellte scheint froh, mir die Tür öffnen zu können. »Nehmen Sie’s ihr nicht übel«, sagt Anne, »für sie bin ich eben vor allem eine alte Arztwitwe, die viel Schlaf braucht. Woher sollte sie auch wissen, dass ich wie Rose Ausländer in ihrem Jerusalem-Gedicht sagen kann: Ich bin fünftausend Jahre jung?« Vor der Gartentür, im schweren Duft der Bäume und Sträucher, hupt eine Motorikscha. Und dann sagt Anne Ranasinghe doch noch einen deutschen Satz: »Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir …« Rilke – in einer Nacht in Colombo.

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