Der Konzertpianist, Dirigent und Musikwissenschaftler Roman Salyutov hat eine besondere Geige: Das Instrument gehörte Itzchak Orloff, bis die Nazis ihn in Auschwitz ermordeten. Durch einen Zufall kam das Instrument zu Salyutov. Beide wurden in Sankt Petersburg (Leningrad) geboren - in den Jahren 1884 und 1984 - mit genau 100 Jahren Abstand.
Herr Salyutov, seit eineinhalb Jahren besitzen und betreuen Sie das Instrument, das einst Itzchak Orloff gehörte und das in den Händen seiner Freundin Lola Grün bei Häftlingskonzerten in Buchenwald erklang. Wie klingt eine Geige, die sozusagen den Holocaust überlebt hat?
Wenn man es hört, dann ist es mehr als nur die Stimme eines Instruments, denn es schwingt die Stimme des einstigen Besitzers mit, die von Itzchak Orloff, der aus St. Petersburg stammte, in Deutschland und später in Frankreich Salonmusik spielte, von wo aus er deportiert wurde.
Wie war die erste Begegnung mit der Violine?
Es war unbeschreiblich. Ich hatte das Gefühl, irgendein sehr zartes, zerbrechliches Leben in den Händen zu halten.
Was wissen Sie über den Besitzer?
Anfangs wusste ich recht wenig über Itzchak Orloff. Ich habe die Violine von einem Freund der Nachfahren einer Geigerin vorgestellt bekommen, die ihn persönlich gekannt und als junge Violinistin unter seiner Leitung gespielt hat.
Wo sind Sie der Geige begegnet?
Eines Morgens hatte ich eine Mail bei mir im Postfach. Der Absender fragte mich, ob ich eine »jüdische« Geige betreuen möchte, sie hat ja keinen finanziellen Wert. Sein bzw. der Wunsch des mit ihm befreundeten Enkelsohns der jungen Geigerin, die unter Orloffs Leitung spielte und diese Violine eigentlich rettete, war, dass die Geige am besten in jüdische Hände gelangt und nicht in einem Museum landet, sondern aktiv gespielt wird. Er schickte mir Dokumente und Fotos mit. Ich fühlte mich überwältigt. Sowas lese ich nicht jeden Morgen. Dann habe ich mich mit dem Herrn in Kontakt gesetzt. Es war ein purer Zufall. Er ist ein bildender Künstler aus Hamburg und wollte eigentlich ein paar Bögen verkaufen. Eine Kollegin aus meinem Orchester, dem Sinfonieorchester Bergisch Gladbach, hatte ihn deshalb kontaktiert. Diese hat er dann gefragt, ob sie jemanden kenne, der an der Geige Interesse haben könnte. Daraufhin sprachen wir miteinander. Später habe ich vom Enkelsohn der Geigerin – Lola Grün hieß sie - auch einige Informationen bekommen, die allerdings sehr brüchig waren. Einiges passte nicht wirklich zusammen.
Sie wurden neugierig.
Ich habe angefangen zu recherchieren, über sie, die die Geige gerettet hat und über Itzchak Orloff selbst. Jetzt gibt es einen Leitfaden von seinem Leben. Es ist bekannt, dass er 1884 bei Sankt Petersburg in eine russisch- jüdische Familie geboren wurde, dass er eine klassische Ausbildung als Geiger bekommen hat. Um 1900 herum besuchte er seinen älteren Bruder, Benjamin, in Paris.
Wissen Sie mehr über ihn?
Zu Benjamin Orloff und seiner Frau gibt es im Yad Vashem Archiv Angaben, wann genau sie mit welchem Zug 1942 nach Auschwitz deportiert wurden. Dort verlieren sich ihre Spuren.
Wie ging es mit Itzchak Orloff weiter?
Er hatte versucht, der Einberufung in die russische Armee während des Ersten Weltkriegs zu entkommen, indem er nach Skandinavien ging. Dort versuchte er zu spielen. Später emigrierte er im Zuge der bolschewistischen Revolution. Um 1920 findet sich seine Spur schon in Berlin. Allerdings scheint es dort nicht so gut gelaufen zu sein. Er hatte sehr wenige Konzerte und ging wieder nach Frankreich. Das Land war eine Art Mekka für Emigranten, die damals aus dem bolschewistischen Russland flohen und eine sehr große russischsprachige Community bildeten. Und dann hat er ein Ensemble für Salonmusik gegründet. Es gibt ein Foto von 1928, mit dem er für sein Ensemble und sich warb. Auch Lola Grün war Mitglied.
Was wissen Sie über die Musikerin?
Zu ihr musste ich auch recherchieren. Sie wurde 1908 in einer in Cherson (Ukraine) ansässigen deutsch-jüdischen Familie geboren und kam mit den Eltern später nach Berlin, wo sie sich begegneten und sie sich ihm anschloss. Zusammen konzertierten sie im französischsprachigen Raum. 1940 wurden dort alle Deutschen ausgewiesen und sie war deutsche Staatsbürgerin. Itzchak Orloff musste schnell untertauchen. Bevor sie nach Deutschland zurückging, muss er ihr seine Geige gegeben haben. Da ein Elternteil von ihr jüdisch war, wurde sie nach Buchenwald deportiert.
Hat er etwas dabei zu ihr gesagt?
Der Enkelsohn von Lola Grün, ein berühmter Flötenprofessor, hat mir berichtet, dass Itzchak Orloff sie gebeten haben soll, auf das Instrument gut aufzupassen. Seine Spur hat sich dann verloren. Und es gibt zwei Vermutungen: Entweder wurde er unterwegs oder direkt nach der Ankunft in Auschwitz ermordet. Das ist sehr schwer zu rekonstruieren. Aber diese Geige hat sozusagen überlebt durch diese junge Frau. Diese wiederum konnte überleben, weil Fritz Sauckel, der damalige Reichsstatthalter in Thüringen, sie aufgrund ihres sehr schönen Violinenspielens begnadigte. Er hat sie einbezogen in Häftlingskonzerte, die im Weimarer Hotel Elephant stattfanden, wo die NSDAP ihre Stammresidenz hatte. Lola Grün bewahrte das Instrument auf. Nach der Schoah war sie teilweise auch in Ostdeutschland, denn sie hatte Verwandtschaft in Erfurt. Dort gibt es eine Geigenbauerfamilie Brückner, und der ältere Herr Brückner, mit dem ich auch Gespräche führte, konnte sich an Lola Grün erinnern. Auch an die Geige, die er repariert hatte. Das Instrument hatte in diesen turbulenten Jahren auch gelitten.
Wer spielt sie heutzutage bei den Konzerten?
Zum größten Teil Alexander Lifland, ein guter Freund und Kollege von mir, der im Beethovenorchester Bonn arbeitet. Er hatte sie auch schon in Auschwitz und Dachau bei Gedenkveranstaltungen gespielt.
Sie treten als Duo auf, was für Literatur wählen Sie aus?
Wir versuchen, Itzchak Orloffs Repertoire nachzugehen. Ein bisschen Leichteres und gleichzeitig auch Komponisten, die ermordet wurden. Das Repertoire ist gemischt, aber wenn es darum geht, das Leben von Orloff zu präsentieren, gehen wir seinem Lebensweg musikalisch nach und spielen unter anderem Komponisten aus den Ländern, die Stationen seines Lebens waren.
Was sagen die Zuhörer dazu, dass sie die Musik über dieses Instrument hören?
Die meisten verstehen schon, dass es kein Instrument für einen siebenstelligen Betrag ist. Und sie bewundern einfach, dass diese Geige klingt, und sind berührt von dem Menschlichen, das sie überträgt. Ich würde sie auch für eine Million Euro nicht mehr hergeben. Sie hat ihren besonderen Klangcharakter, und jeder, der über das notwendige Können verfügt sowie offenes Ohr und Seele für ihr Schicksal hat, kann dieses Instrument unvergesslich erklingen lassen.
Mit dem Musikwissenschaftler, Pianisten und Dirigenten aus Bergisch-Gladbach sprach Christine Schmitt.
Nächste Termine: 25. Januar im Forum Dorsten – zuerst für eine Schulveranstaltung und abends mit einem öffentlichen moderierten Konzert in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Westfalen. Am 28. Januar erklingt sie in der ehemaligen Synagoge Issum.